Ausgebeutete Menschen, ungleiche Vermögen, ständiges Wachstum und unkontrollierter Konsum: Viele Entwicklungen der heutigen Welt werden dem Kapitalismus zugeschrieben. Aber sollte man das wirklich so unbedacht tun?
Der Titel verwirrt? Soll er auch! Denn auch der Kapitalismus ist schwierig zu entwirren. Bei dem Titel ist das Auflösen der Verwirrung aber jedenfalls etwas einfacher – starten wir also damit:
Das Känguru, das ist nicht irgendeines. Es entspringt den millionenfach verkauften Hörbüchern „Die Känguru-Chroniken“ des deutschen Künstlers Marc-Uwe Kling. Im Grunde geht es dabei um ein dem Kommunismus und der Anarchie zugeneigtem Känguru, das ständig diskutiert. Darüber, warum der Kapitalismus die Wurzel allen Übels ist. Darüber, warum es mehr Staat und trotzdem weniger Regeln braucht.
Um nicht alle Hörbücher Seite für Seite lesen zu müssen, schlüpfen wir mit ChatGPT in den Kopf des Kängurus. Was hat es am Kapitalismus auszusetzen? Die Antwort: sehr vieles. Um es aber etwas übersichtlicher zu gestalten, haben wir ChatGPT gebeten, sie auf vier provokante Thesen zu kürzen.
Wie die Thesen einzuordnen sind und ob sie auch außerhalb des Buches relevant sind, haben wir drei Experten mit unterschiedlichen Perspektiven gefragt.
Da wäre Nunu Kaller, Aktivistin und Buchautorin, die sich mit der Frage des gesunden Konsums beschäftigt. Der pensionierte Soziologe Rudi Schmiede, der jahrzehntelang an der TU Darmstadt zum Einfluss des Kapitalismus auf die Arbeitswelt gelehrt und geforscht hat. Und zu guter Letzt Sozioökonomin Clara Moder, die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bei arbeit plus auseinandersetzt, einem österreichischen Netzwerk für „Soziale Unternehmen“.
Beachte:
Die Fragen bzw. Thesen können auch quergelesen werden, je nachdem, was interessiert. Jeweils zwei Thesen sind jedoch verknüpft, es lohnt sich also, zumindest die ersten beiden (Ungleichheit & Ausbeutung) oder letzten beiden (Konsum & Wachstum) Thesen auf ein Mal zu lesen.
Was ist Kapitalismus überhaupt?
Wir möchten es einfach halten und setzen deshalb den Begriff Kapitalismus mit jenem der Marktwirtschaft gleich, wie es in öffentlichen Diskursen meist der Fall ist. Damit sprechen wir vor allem von dem Wirtschaftssystem westlicher Industriestaaten.
Die meisten Unternehmen sind in diesem System privat, nur wenige in der Hand des Staates. Menschen können Unternehmen gründen oder selbstständig Produkte am Markt anbieten und verkaufen.
Genauso ist es jedem als Konsument selbst überlassen, welche Güter er kaufen und welche Dienstleistungen er in Anspruch nehmen will.
Der Wettbewerb am freien Markt bestimmt, wie viel und zu welchem Preis verkauft werden kann und damit auch den Erfolg eines Unternehmens. Der Staat greift nur gezielt ein, wenn „der Markt versagt“.
Inhaltsverzeichnis
Ungleichheit
“Also, meine lieben Mitbewohner, der Kapitalismus ist wirklich so eine hervorragende Erfindung, nicht wahr? Die reichen Reichen können nicht genug Geld zählen, während die armen Armen kaum die Miete bezahlen können. Das ist doch wirklich eine grandiose Methode zur Ressourcenverteilung, nicht wahr?”
Nunu Kaller, Aktivistin & Buchautorin
In den USA gab es die Bewegung „We are the 99 percent“. Den Hinweis fand ich sehr gut: „Hey, stopp mal, Leute: Da werden nur Reiche immer reicher.“ Seitdem ist es noch extremer geworden, das halte ich für demokratiepolitisch gefährlich. Ich glaube, dass es eine Reform des Steuersystems braucht. Natürlich kann ich auch sagen, „ich will die Revolution“ – das habe ich auch jahrelang gemacht. Aber irgendwann habe ich mich gefragt: Was kommt eigentlich nach der Revolution? Vielleicht braucht es ja gar nicht so viel. Vielleicht ist der Unterbau ja eh schon gegeben, aber wir leben es einfach falsch.
Rudi Schmiede, pensionierter Soziologe
Die Formulierung ist natürlich überspitzt, aber es beschreibt reale Verhältnisse. In vielen westlichen Ländern geht die Schere bei Einkommen und Vermögen seit Jahrzehnten auf. Die Expansion des Finanzkapitalismus hat den Prozess noch weiter verstärkt. Das Geld fließt nicht mehr mehrheitlich in Industrie und Handel, sondern in den Finanzmarkt. Eine ganze Reihe großer Anleger lassen ihre Investitionen von spezialisierten Finanzinstitutionen und Fondsmanagern durchführen. Weltweit profitabel zu investieren, setzt ein geballtes Wissen voraus. Das kann man sich als Privatperson nicht einfach verschaffen. Es ist ja nicht zufällig, dass große Finanzinvestoren größere Firmen mit spezialisierten Finanzwissenschaftlern, Betriebswirten und Währungsspezialisten begründet haben.
Clara Moder, Sozioökonomin
Bei Gehältern, Löhnen und Mieten wird steuerlich eingegriffen und umverteilt. Da gibt es also einen Konsens darüber, dass sie nicht ideal verteilt sind. Bei Vermögen wird überhaupt nicht eingegriffen, es kann sich relativ ungestört vermehren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Reichen immer reicher werden. Natürlich ist das auffällig im Kapitalismus, aber es ist auch eine sozial-steuerpolitische Entscheidung. Es gab und gibt ja auch kapitalistische Systeme mit höheren Vermögenssteuern. Derartige Steuern sind im Grunde ja zutiefst libertäre Ideen. Nur als Beispiel: Man kann auch eine 100-prozentige Erbschaftssteuer einführen. Alles, was aufgebaut und vererbt wird, wird ans Kollektiv rückverteilt. Alle haben die gleichen Startchancen und jeder ist seines Glückes Schmied. Man muss also den Kapitalismus nicht unbedingt abschaffen, um eine gerechtere Verteilung herzustellen.
Ausbeutung
“Ausbeutung ist wie Schokolade – süß für die, die davon profitieren, aber bitter für die, die verbraucht werden. Vielleicht wird es Zeit, auf einen gesünderen Snack umzusteigen, der für alle verdaulich ist?”
Clara Moder, Sozioökonomin
Ich glaube, die derzeitige Weltordnung funktioniert nur mit Ausbeutung von Ressourcen, von Menschen, von Volkswirtschaften mit weniger Markt- und Verhandlungsmacht. Aber man muss es trotzdem im Kontext betrachten. Insgesamt neigt man als linke oder progressive Person dazu, den Kapitalismus generell negativ zu konnotieren. Oft mit Bezug auf den Finanzkapitalismus, der auf einem ausbeuterischen System aufbaut und die Kapitalanhäufung bei nur Wenigen ermöglicht. Im Endeffekt geht es aber stark um Machtungleichheiten, die vielleicht sogar system-unabhängig sind. Man kann sich das natürlich so ein bisschen schönreden mit „der Markt will das“, aber letztlich sind es ja diejenigen, die in der stärkeren Verhandlungsposition sind und das ausnutzen.
Nunu Kaller, Aktivistin & Buchautorin
Da kann ich voll zustimmen. Beispiel Textilien: Was siehst du, wenn du ins Geschäft gehst? Das fertige Kleidungsstück und den Preis. Du siehst nicht, durch welche Hände es gegangen ist, in welchen Giften es geschwommen ist. Und das zweite ist: es ist einfach unfassbar nahe. Ausbeutung findet nicht nur irgendwo in Fernost in der Textilproduktion statt.
Mein liebstes Beispiel sind die elektrischen Leih-Scooter. Jetzt haben sie das System ein bisschen geändert; bis vor kurzem war das aber nicht nur ökologisch völliger Wahnsinn. Die haben geworben mit: „Wir ersetzen Autofahrten“. Nein, tun sie nicht! Sie haben Fußwege und Öffis ersetzt. In der Nacht sind die Scooter eingesammelt worden von Geringverdienern, die auf eigene Stromkosten die Scooter aufladen und nur ein paar Cent pro geladenem Scooter bekommen. Das war komplette Ausbeutung vor unseren Augen!
Rudi Schmiede, Soziologe
Ja, kann man so abnicken. Es gibt eine Ausbeutung des globalen Südens, aber es ändert ja auch nichts daran, dass selbst in entwickelten Ländern die Masse der Bevölkerung – obwohl es ihnen deutlich besser geht – auf der ausgebeuteten Seite steht. In Deutschland verfügen die reichsten zehn Prozent über 60 Prozent des Vermögens, die Zahlen in den USA sind noch ausgeprägter. In Entwicklungsländer ist es aber noch schlimmer. Da geht es auch um kriminelle Netzwerke, die das verstärken. Da die Ausbeutung ein weltweit etabliertes System ist, würde eigentlich nur ein weltweit funktionierender Wechsel helfen – insbesondere in Bezug auf die Finanzwirtschaft. Der ist aber nicht in Sicht.
Konsumzwang
“Uns wird ständig eingetrichtert, dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir mehr Zeug kaufen. Was für ein Unsinn! Wir werden zu willenlosen Konsumsklaven degradiert, die ihr hart verdientes Geld für Plunder ausgeben, den sie eigentlich nicht benötigen. Ist das nicht lächerlich?“
Rudi Schmiede, Soziologe
Ist so (lacht). Wenn sie den Bereich des Konsums nehmen: Ein nicht unerheblicher Teil der ökonomischen Aktivitäten zielt auf Massenbeeinflussung ab. Es werden jedes Jahr neue Moden geschaffen, sodass man sich neue Ausstattung kaufen muss. Oder Stile von Privatfahrzeugen geändert. In Deutschland gehen mittlerweile über 60 Prozent der Autoverkäufe auf große SUVs zurück. Das ist verkehrstechnisch völliger Irrsinn. Das fällt aber natürlich nicht vom Himmel oder auf verrückte Fantasien einzelner Konsumenten zurück. Natürlich haben sie die Bereitschaft dazu, aber letztlich sind es Resultate riesiger Kampagnen.
Clara Moder, Sozioökonomin
Es gibt Dinge, die wir konsumieren müssen. Die Frage ist, ob das in dem derzeitigen Ausmaß nötig ist. Es gibt den interessanten Ansatz der Human Needs Theory: Welche Grundbedürfnisse gibt es und wie können wir sie sinnvoll befriedigen? Eines davon ist die Mobilität, also von A nach B zu kommen. Derzeit ist es meistens das Auto. Das ist extrem ressourcenintensiv, es ist sehr unnachhaltig, es ist ein massiver Freiheitsentzug für alle anderen, die nicht mit dem Auto unterwegs sind. Klar ist Konsum notwendig, gleichzeitig gibt es aber Bereiche, in denen eine kollektive Organisation besser wäre. Denkbar wäre das etwa auch bei der Ernährung und beim Wohnen.
Nunu Kaller, Aktivistin & Buchautorin
Genau das! Wir nehmen uns selbst fast nur noch als Konsumenten wahr. Und nicht mehr als jemand mit politischer Stimme, als Bürger, als Nachbarn. Das ist alles im Hintergrund, weil die größte Macht haben wir mit der Geldbörse, wird uns eingetrichtert. Aber die Rolle der Konsumenten wird völlig überschätzt. Die Frage ist natürlich, was guter Konsum überhaupt wäre. Das, was uns als nachhaltiger Konsum verkauft wird, ist ja eigentlich ein Widerspruch in sich. Toll, ich kaufe genauso viel wie davor, nur jetzt halt mit grünem Anstrich. Das Fazit, auf das ich gekommen bin: guter Konsum ist weniger Konsum.
Wachstumszwang
“Der Wachstumszwang im Kapitalismus ist wie ein Hamster im Laufrad – es rennt und rennt, aber kommt nie wirklich voran. Sollten wir nicht lieber aussteigen und fragen: Wozu das Ganze?“
Clara Moder, Sozioökonomin
Ja, voll. Unser Verständnis vom Wohlstand baut darauf auf, dass die Wirtschaften wachsen soll. Diese Kopplung von Wachstum und Wohlstand gibt es aber nicht nur im Kapitalismus. Im Realsozialismus der DDR gab es ja auch diese Idee, mehr zu produzieren und den entstandenen Wohlstand zu verteilen. Im Endeffekt basieren die meisten Gesellschaftssysteme auf einer kapitalistischen Marktwirtschaft im mehr oder weniger engen Sinne. Aber das ist eine offene Debatte, inwieweit es im jetzigen System möglich ist, den Wohlstand vom Wachstum zu entkoppeln. Ist ein gutes Leben wirklich eines mit mehr Dingen oder mehr Geld? Ist es wirklich notwendig, alles selbst zu besitzen? Ich glaube, das Problem ist, dass wir alle ein wenig ideenlos geworden sind, wie eine Alternative aussehen könnte. Aussteigen und „wozu das Ganze“ ist prinzipiell mal eine gute Idee, aber die Frage ist, was machen wir dann?
Rudi Schmiede, Soziologe
Ja, natürlich. Vielleicht müsste man noch präzisieren, was mit „Ausstieg“ gemeint ist. Eine aktuelle Form des scheinbaren Aussteigens ist die Orientierung an Nachhaltigkeit. Erst heute habe ich eine große Anzeige von Daimler gesehen, eine ganze Zeitungsseite, wo sie ihre Nachhaltigkeit betonen. Ein vergleichbares Feld sind die Veränderungen der materiellen Produktionsweise. Debatten über die Flexibilisierung von Arbeit, über subjektive Bedürfnisse. Das sind natürlich gerechtfertigte Wünsche, aber die können genauso zu einer Verankerung dieser Produktionsweise im tieferen Inneren führen. Dass man wirklich zum subjektiven, kapitalistischen Einzelkämpfer wird. Da trifft eine Oppositionsstrategie von kritischen Individuen auf eine Vereinnahmungsstrategie etwa von Unternehmen.
Nunu Kaller, Aktivistin & Buchautorin
Ja (lacht)! Und ich haue ein anderes Zitat noch in den Topf mit hinein: „Wer an unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten glaubt, ist entweder ein Betriebswirt oder ein Idiot.“ Der Wachstumszwang wird einfach umgelegt auf die Einzelnen: „Kauft mehr! Ihr müsst die Wirtschaft am Laufen halten.“ Aber niemand sagt: „Hey, wie können wir das eigentlich anders denken, weil wir uns das nicht mehr leisten können.“