© Lucia Bellapianta

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Rattenfänger von damals und heute

Eine Analyse der heutigen Zeit im Gespräch mit NS- Zeitzeugin Erika Kosnar

Ein Multimedia-Reportage von Lucia Bellapianta

Dauer: 25 min.

Erika Kosnar (geb. Nemschitz) kam 1932 in Wien auf die Welt. Sie wurde in einer Arbeiterfamilie hineingeboren. Erika’s Vater war Jude und ihre Mutter zum Judentum konvertiert, was sie jedoch bis Kriegsende verstecken konnte. Die NS-Behörden übten Druck auf die Mutter aus, sich von ihrem Mann trennen, was sie jedoch nie tat. Unter dem Nationalsozialismus musste Erika Kosnar den Judenstern und den Zusatznamen „Sara“ tragen und durfte ab 1942 auch nicht mehr ihre übliche Schule besuchen. Die Familie lebte während des Nationalsozialismus immer noch in Wien, weil sie sich eine Auswanderung nicht leisten konnten. Erika’s Vater musste Zwangsarbeit leisten und Erika’s Familie mitsamt Großmutter wurde gegen Kriegsende von einem Bombenangriff überrascht. Ihre Eltern erlitten schwere Verletzungen, überlebten jedoch. 

Erika Kosnar setzte nach Kriegsende ihre schulische Ausbildung fort und arbeitete dann als Sekretärin in einem Verlag. Jetzt engagiert sie sich als Zeitzeugin und erzählt Schüler*innen von ihrer Geschichte. 

 

 

Ein paar Worte vor dem Interview…

„Schauen sie, ich bin 93. In meinem Alter lügt man nicht mehr. Was ich ihnen jetzt erzähle, das können sie wörtlich nehmen, ich lüge nicht mehr. Das zahlt sich ja nicht mehr aus.“

 

„Ich bin eine Missgeburt. Der Kopf ist 30 und der Körper 93.“ (lacht)

Frau Kosnar, ich habe Ihren autobiografischen Text gelesen. In diesem schreiben Sie: „Heute fallen Menschen wieder auf die Versprechen von Rattenfängern herein.“ Was meinen Sie mit dem Begriff Rattenfänger genau?

Erika Kosnar: Es gibt ja das Märchen vom Rattenfänger von Hameln. Der hat auch den Kindern immer erzählt – die Kinder sind hinter ihm hergegangen, während er Flöte gespielt hat und die Ratten natürlich auch. Und die Kinder mit den Ratten, sind dann alle ins Wasser gekommen. Man bringt die Kinder mehr oder weniger dazu sich selbst umzubringen. Denn, wenn sie nicht vorsichtig sind und den Wünschen der Herrschaften entsprechen, dann sind sie ja nicht mehr gefragt. Manche Menschen, wenn sie – auf Wienerisch gesagt „ans Ruder kommen“ – dann glauben sie, dass andere Menschen Material sind, mit denen sie machen können, was sie wollen. Wenn man den Menschen was verspricht und die glauben das, sind sie selbst schuld. Und daher – Vorsicht.

 

Sie schreiben in Ihrem autobiografischen Text auch: „Die Situation in Österreich erinnert mich immer wieder an die Erzählungen meines Vaters über die Jahre 1934-38.“ Sie bezeichnen in Ihren Text z.B. auch Hitler als Rattenfänger. Was haben Rattenfänger mit der heutigen Zeit zu tun?

Naja Rattenfänger – Sie spielen den Menschen etwas vor, versprechen ihnen etwas und halten es aber nicht. Das ist auch immer einer der Gründe, den ich den Schülern sag – Wenn euch ein Politiker etwas verspricht, schaltet bitte das Hirn ein und denkt nach, ob er das überhaupt halten kann. Versprechen kann ich das Blaue vom Himmel, halten können ist schwieriger.

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Finden Sie, die Jugend und die Menschen sind sehr beeinflussbar von Versprechen?

Naja, zum Beispiel der Kickl. Er stellt ja nichts vor. Ich sag, im Grunde genommen – im Wienerischen nennt man so jemanden „Zomscherel“ – also jemanden, der nicht groß
ist, aber sowas großes hat (zeigt auf ihren Mund). Leider Gottes kann er auch denken und das ist die große Gefahr. Ja, der kann reden und die Leute lassen sich von sowas blöd machen. Es ist bequem, wenn man anderen das Denken
überlässt. Nur nicht selber denken. Da könnte man ja Kopfweh bekommen (schmunzelt). W
ozu hat uns der liebe Gott das Gehirn gegeben? Dass er bei einigen Pause gemacht hat, das ist eine andere Frage. Da gehört Österreich auch dazu. Das hat man bei der letzten Wahl gesehen.  

Würden Sie sagen, man soll vorsichtig sein mit Herrn Kickl?

Ich bin der Meinung, der Mensch hat ein Hirn bekommen. Es ist nicht bei jedem besonders gut entwickelt, aber immerhin so viel muss vorhanden sein, dass man das, was einem erzählt wird, da auch überlegen kann, ob das überhaupt machbar ist. Denn versprechen kann man alles. Man hat das ja auch 1938 gesehen. Die Soldaten sind nicht nur einmarschiert, sie haben ja auch diese Küchen mitgebracht, die sie dann am Heldenplatz aufgestellt haben. Naja, eher Kessel, wo man Essen gekocht hat. Und die Wiener, die konnten sich dann einen Schlag Suppe holen. Ja, es hat sehr viele Arbeitslose gegeben, aber so notwendig, dass sie sich um die Suppen angestellt haben, so krass war es wirklich nicht. Man konnte sich eine Suppe zuhause kochen, das war nicht zu teuer. Aber damit haben sie die Wiener gefangen. Und heute versucht man es nicht unbedingt mit einer Suppe oder einen Kochkessel, heute werden andere Sachen versprochen. Ob man sie halten kann, ist eine andere Frage.

Was wird denn versprochen?

Das sind die unterschiedlichsten Sachen. Man beanstandet zum Beispiel die Flüchtlinge. Man kann nicht alle in einem Topf werfen. Vielleicht weiß ich das besser und zwar aus dem Grund, wir hatten nicht die Möglichkeit zu flüchten 1938. Die Reise was viel zu teuer. 

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Wie schon davor gesagt, Sie meinen ja, dass die Zeit von jetzt Sie an die Zeit von 1934-38 erinnert. Warum glauben Sie das? Wo sehen Sie die Parallelen?

Das ist mehr oder weniger ein Gefühl. Ich war 1934 erst 2 Jahre alt, aber ich wurde eigentlich nie als Kind betrachtet. Wenn die Familie beisammen war, war ich mitten in der Schar drinnen. Man hat auch später die Sender zusammen angehört, da ist die ganze Familie fast schon in das Radio hineingekrochen. Man hat bei mir – auf Wienerisch gesagt, „kein Päckchen vor dem Mund genommen“. Es wurde immer alles vor mir gesprochen.

Sie meinen das ist ein Gefühl, aber wo sehen Sie die Parallelen zwischen 1934-38 und der heutigen Zeit. Warum sagen sie das in ihrem autobiografischen Text?

Weil die Menschen nicht klüger geworden sind. Es laufen heute die Leute weiter Rattenfängern nach. Die versprechen ihnen alles mögliche. Ich sag nur den Namen Kickl. Er verspricht alles, was sie nicht alles bekommen und er regt sich fürchterlich über die Flüchtlinge auf. Ja, es ist eine Belastung für die Bevölkerung und es kann auch sein, dass sie vielleicht jemanden eine Stellung wegnehmen. Aber – zum Beispiel, wir hatten eine Familie aus Syrien mit Kindern als Nachbarn. Der Mann ging jede Woche auf das Arbeitsamt für eine Arbeit. Er war Elektroingenieur. Er konnte nicht gut Deutsch. Und aus diesem Grund hat er keinen Posten bekommen. Der wollte ja arbeiten. Man kann nicht alle in einen Topf werfen.

Dass die Menschen nicht denken, das war vor 1938 genauso. Man hat immer gehofft, von wo anders käme eine bessere Zeit. Ja, die Arbeitslosigkeit war bei uns groß und es hat geheißen – in Deutschland gibt es keine Arbeitslosigkeit. Hats genauso gegeben! Nur betroffen waren dann meistens zum Teil Juden und solche, die dem ganzen System nicht genehm waren. Na klar, es war damals so und wie der Hitler gekommen ist – es gibt diese Szene, wie der Hitler im Auto steht, im Hintergrund die Staatsoper und davor die jubelnden Frauen. Und da ist eine mit einem schwarzen Hut, die streckt die Hand aus, so gerade, dass sie nicht den Hitler die Hand küsst. Da haben sie alle gejubelt, aber sobald die ersten Krüppel zurückgekommen sind, da war der Jubel vorbei, aber dann war’s schon zu spät. Und das versuch ich der Jugend genauso zu sagen – Bitte erst denken und dann tun! Nicht einfach – wird schon nichts passieren. Wozu hat der liebe Gott und das Gehirn gegeben? Zum Nachdenken und nicht nur als Füllmasse. 

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Haben Sie das Gefühl, dass einige Menschen in der heutigen Zeit so angesehen werden, wie Juden und Jüdinnen damals?

Das habe ich bereits einmal festgestellt. Die Flüchtlinge sind dasselbe, was 1938 die Juden für die Österreicher waren. Sie sind unerwünscht. Mein Vater hat bestimmt niemanden weh getan. Er hat sich sein Brot wirklich schwer verdient. Und trotzdem – Man hat alle Juden in einen Topf geworden.

Haben Sie Angst um Österreich? Finden Sie es läuft eine Gefahr, dass sich die Lage verschlimmert?

Angst zu haben, es bringt nichts. Es gibt eben in Österreich auch nur Menschen, nämlich „Menschen“ unter Anführungszeichen. Aber die wenigsten überlegen, was sie tun. Die meisten denken eventuell nur an einen Nutzen, den sie von etwas haben könnten. Dass sie dabei auch Schaden nehmen können, auf den Einfall ist noch keiner gekommen. Aber meistens, wenn der Schaden kommt – wie ich schon erzählt habe, beim Einmarsch in Wien, die Begeisterung der Frauen, wie lange hat die Begeisterung gehalten? Bis die ersten Verwundeten zurückgekommen sind. Meistens wenn der Schaden kommt, ist es schon zu spät.

Es waren die US-Wahlen vor nicht zu langer Zeit und da hat Trump gewonnen. Was denken Sie darüber?

Was strahlt der Trump aus? Er schaut aus wie ein böser Hund, der zu bellen beginnt. Aber wenn sich die Amerikaner sowas wählen, dann sind sie selbst schuld dran. Es ist nur schade, dass die anderen das dann auch mitmachen müssen.

Auch in Österreich waren letztens die Nationalratswahlen mit der FPÖ als stimmungsstärkste Partei…

Ist genau dasselbe. Auch ohne Hirn. Ich weiß nicht, wollen sie alle wieder marschieren?

Warum glauben Sie wählen Menschen solche Parteien?

Es wählen ja nicht einmal alle. Ich kann nur dann über die Regierung schimpfen, wenn ich davor gewählt habe. Wer seine Stimme nicht zum Hören bringt, der darf sich nicht wundern, wenn ihm etwas passiert.  Wenn das Volk so blöd ist und sich so etwas wählt, dann hat es die Folgen selber zu tragen. Es ist nur das traurige, dass auch die anderen die Folgen tragen müssen. 

Bild Judenstern
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Es gibt ja sehr viele Menschen, die ihre Stimme für rechtsextreme Parteien abgeben. Wenn man sie dann aber fragt, ob sie rechtsextrem sind, dann verneinen sie das. Was sagen Sie dazu?

Da kann man nichts sagen. Da bleibt einem das Wort im Hals stehen. Haben Sie in der Schule nicht Geschichte gelernt? Ich weiß die Zeit 1938 wird in den Schulen öfter mal übersprungen. Es gibt auch unter den Lehrern welche, die gerne ausweichen. Aber trotz allem, die Menschen müssen doch denken. Auch wenn sie nach der Zeit erst geboren sind. Die Welt ist ja die gleiche geblieben. Österreich ist das gleiche geblieben. Wir haben ein wunderschönes Land. Im Grunde, es muss bei uns niemand verhungern. Auch wenn wir Flüchtlinge aufnehmen. Aber man muss – wie mein Vater mir immer gesagt hat – Vergiss nie, dass du ein Mensch bist. Und Mensch sein bedeutet, ein Herz zu haben, Gefühl zu haben und das Hirn zum Denken zu verwenden und nicht nur als Füllmasse.

Und Sie haben das Gefühl, dass einige Menschen vergessen, dass sie Menschen sind?

Sie sind denkfaul. Denken verlangt ja auch ein gewisses Mitgefühl. Naja, Gefühl ist etwas, was heute nicht mehr besonders gefragt ist. Es denkt fast jeder nur an sich. Das sieht man ja in den Parteien alleine schon.

Wie kann man Menschen, die nicht denken, zum Denken bringen?

Der Mensch wird leider klüger nicht, solange er lebt. Denken dürfte irgendwie anstrenged sein. Es ist nur eines gut. Dass Dummheit nicht weh tut. Das Geheule wäre nicht auszuhalten.

Frau Kosnar, Sie gehen immer wieder in Schulen, um Kindern von Ihrer Kindheit und der NS- Zeit zu erzählen. Warum machen Sie das?

Warum ich mir das antue? Die Welt da draußen geht ja weiter. Ich bin ja noch nicht gestorben. Ich sag den Kindern eins, was aus mir wird – ich hab ja nicht mehr lange zu leben. Aber es geht um eure Zukunft. Und da könnt ihr nur eines machen. Bitte schaltet das Gehirn ein.

Ich mach das ja nicht, weil ich bedauert werden will, sondern ich will ihnen das ersparen, was wir erlebt haben. Ein Grund, warum ich die Schuleinsätze mache ist, dass sich die Jugend beeinflussen lässt. Ich will ihnen also das ersparen, was wir erlebt haben. Es ist nicht nur eine Pflicht, sondern es ist notwendig. Es kommt ganz von alleine, ich könnte mich gar nicht zurückhalten.

 

Man muss versuchen sie (die Kinder) zum Lachen zu bringen. Sie dürfen nicht verspüren, dass ich eine alte Frau bin, die irgendwas erzählt und sie erschrecken will. Nein, ich erzähl nur so wie es gekommen ist, auch die Gefühle, die ich gehabt habe. Und das bleibt dann bei den Kindern. Ich sag den Kindern eines – Ihr könnt mich alles fragen und wenn ich die Fragen beantworten kann, dann beantworte ich sie auch. Märchen erzähle ich nicht, das überlass ich den Politikern. Die können das viel besser als ich. (lacht) 

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Meine letzte Frage an Sie, Frau Kosnar. Glauben Sie, dass sich das von damals wiederholen könnte?

Ja.

Warum?

Weil die Menschen dumm sind. Weil die Menschen nicht aus der Geschichte lernen. Die Leute verstehen etwas erst, wenn’s zu spät ist.

Und was kann man dagegen tun?

Nichts.

Nichts?

Nichts.

Kann ich als Einzelperson irgendwas dagegen tun?

 

Eines kann ich dir sagen. Vergiss nicht, Mensch zu sein. Denk an die anderen und nicht nur an dich selbst. 

Erzählungen aus Erika Kosnar’s Kindheit:

„Es ist komisch, ich hab diese ganzen Erinnerungen, Bilder vor mir, als ob’s gestern wär.“

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