“Du bist jetzt mein Lehrer, Tigran.”, sagte Herbie Hancock berechtigterweise über einen der bedeutendsten Jazzpianisten unserer Zeit. Der Vater war Rockfan, der Onkel hörte Jazz, Tigran war bereits mit 11 das erste Mal auf einer großen Jazzbühne und schon mit Sieger der Thelonious Monk Jazz Competition. Inspiriert von klassischer Musik, Metal und vor allem armenischer Volksmusik, entführt der inzwischen 34-jährige Pianist den Zuhörer von einem musikalischen Abenteuer ins Nächste und macht dabei nichts Geringeres als zu beweisen, warum Jazz nicht tot ist.
2022 startet er mit neuem Schnurrbart – den will er vorerst behalten – und einem Umzug nach Italien, wie er mir später über Skype erzählt. Wir sprechen über seine Inspirationen, den Wertverlust von Musik und was wir dagegen tun können.
Wann man vergangene Interviews von dir liest, bekommt man das Gefühl, dass jeder Besuch in Armenien in dir etwas Neues auslöst. Hattest du in den letzten zwei Jahre die Möglichkeit in der Heimat zu sein?
Nein. Die Pandemie selbst war ein eigenes Phänomen.
Ich habe die meiste Zeit in Los Angeles festgesteckt, bis ich vor zwei Monaten nach Italien gezogen bin. Nichtsdestotrotz ist die armenische Kultur in mir und immer bei mir, egal wo ich wohne. Manchmal ist dieses Verlangen auch stärker, wenn du weit von zu Hause weg bist. Es gibt Momente, in denen würde ich es lieben nach Armenien zu gehen und mich von der Natur, Architektur oder Künstlern inspirieren zu lassen. Diese Energie zurückzubekommen.
Trotz all dem brauche ich auch Stille zum Komponieren oder Üben, sodass ich all diese Emotionen bündeln kann.
Wenn du ein Stück schreibst, passiert zuerst die Komposition und ganz am Ende wird ein Titel hinzugefügt. Also die Musik zeichnet ein Bild, das du dann betitelst und beschreibt nicht eine frühere Vorstellung. Denkst du daran wie dein Umfeld klingt, wenn du an neuen Orten oder der Natur bist?
Ja, überall wo ich mit Jahrtausend alter Kultur in Berührung komme, überlege ich mir wie die Musik hier geklungen hat und wie sie sich verändert hat. Es ist lustig, dass du fragst, aber ich beschäftige mich gerade viel mit Mittelalter, Barock und der Musik aus dem 12. Jahrhundert. Also Musik, die fast 1000 Jahre alt ist. Und da gibt es immer ein Verlangen, sich mit etwas wieder zu verbinden. Ich weiß nicht warum, aber diese Musik inspiriert mich.
Was ist das für eine Musik? Wie klang die Musik in dieser Region vor 500 Jahren? Wie bin ich damit verbunden? Ändert mich das?
Das sind Fragen, die ich mir immer stelle. Es gibt Musik, die ich entdecke, die bei mir bleibt. Wenn dich etwas berührt, das vor 700 Jahren geschrieben wurde, muss man sich fragen, wie das funktioniert. Diese alten Melodien zu erforschen, berührt mich.
Der Vater hörte Rock, der Onkel Jazz. Kannst du dich an den Moment erinnern, als du zur armenischen Volksmusik gefunden hast?
Das war tatsächlich auch wegen meinem Onkel. Er nahm mich einmal zu einer Dinnerparty bei einem seiner Freunde mit. Dort wurde gerade ein paar ECM Label Jazz gehört. Also Künstler wie Jan Garbarek, Keith Jarrett und Ralph Towner. So etwas hatte ich noch nie gehört. Zu der Zeit gab es für mich nur Bebop.
Als wir dann das Album “DIS” gehört haben, ein Duett Album von Jan Garbarek und Ralph Towner, hat es mich erwischt. Was ist das? Es ist schön und improvisiert aber nicht so wie ich es kannte. Natürlich haben auch diese Künstler sich mit Bebop beschäftigt, aber ich hörte kein derartiges musikalisches Vokabular. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass ich in ihrer Improvisation Volksmusikelemente hören konnte. Jan war von norwegischer, bulgarischer und wahrscheinlich auch armenischer Volksmusik inspiriert.
Seitdem betrachte ich improvisierte Musik anders. Diese Nacht hat mir die Tür zur Volksmusik geöffnet. Ich komm aus einer Region mit einer reichen Musikkultur. Damals war ich 13 und seitdem war mein musikalisches Leben verändert.
Ich fand es lustig, als du erzählt hast, dass du keine andere Musik mochtest, als du Bebop gehört hast.
-Tigran lacht- “Habe ich wirklich nicht.”
Das ist eine Erfahrung, die mehrere Menschen beschreiben, vor allem wenn sie Musik in westlichen Hemisphären studieren. Denkst du, dass es ein institutionelles Problem in der Art wie wir Jazz und Popular Musik unterrichten gibt?
Jazz Studies sind etwas sehr Sonderbares. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Jazz Musikern.
Es gibt die, die durch Bebop gegangen sind und dadurch ihren Weg gefunden haben und jene, die sofort mit etwas Neuem begonnen haben. Ich respektiere beide dieser Wege.
Meine Erfahrung war Bebop und das hat mich gelehrt, wie ich in Strukturen denke, sie baue und in ihnen improvisiere.
Ich bin dankbar, dass ich Bebop studiert habe und auch für all die großartigen Lehrer für Komposition und klassische Musik, die ich hatte. Das ist ein großer Teil meiner Arbeit. Jede Schule in jedem Land hat andere Systeme und ich denke nicht, dass es eines gibt, das für jeden passt.
Wir sollten weniger daran denken, welche Dinge uns nicht gezeigt wurden, sondern warum wir uns für manches nicht interessiert haben. Du wirst zu jedem Thema Leute finden, die dir die gesuchte Information geben können.
Ich habe zum Beispiel in Armenien nichts über frühe westliche Musik gelernt über die Musik vor Bach, Renaissance, westliche Polyphony und Notre-Dame Schule. Komponisten wie Pérotin, Léonin oder Machaut.
Das ist eine riesige Inspiration für mich und ich hatte davon nichts gehört, bis ich in Amerika war und bereits acht Jahre klassische Musik studiert hatte.
Es geht also darum, dass Musiker verstehen, was sie wollen und das verfolgen.
Welchen Rat würdest du also jungen Musikern geben, die ihren musikalischen Horizont erweitern wollen?
Ein Rat, den ich meinem damaligen, studierenden Selbst geben würde, ist, sich außerhalb dessen umzusehen, was gerade im Trend ist. Es ist leicht, sich und seine Stimme im Strom zu verlieren, aber vielleicht willst du etwas ganz Neues sagen. Gib darauf acht und versuch Neues zu finden, außer dem, was gerade gemacht wird.
Du sprichst auch darüber, dass Musik ihren Wert verloren hat, weil sie überall ist. Was kann gegen diesen Wertverlust unternommen werden?
Ich weiß es nicht. Musik ist aktuell überall und das ist nicht zu ändern. Ich würde gerne Musik in Restaurants und Kaffees verbieten – warum sollte ich beim Essen Musik hören?
Besonders die Idee von Hintergrundmusik! Überall läuft Musik im Hintergrund und manchmal wird auch wirklich gute Musik zur Hintergrundmusik und das ist respektlos.
Es prasselt so viel Musik und Information auf dich herunter, dass du manchmal deine Ohren zuhalten musst, um dich zu schützen.
Musik ist überall und manchmal braucht man Stille, um Musik wertzuschätzen.
Hörst du beim Autofahren Musik?
Ich fahre nicht. Also wenn ich im Auto Musik höre, bin ich nicht am Steuer. Ich kann zwar Autofahren, aber hätte Angst davor ein Stück Kunst zu hören und dabei zu lenken.
Ich bin aber meistens am Beifahrersitz, also kann ich darüber nachdenken und zuhören.
Man könnte sagen du bist als junges Talent oder Wunderkind aufgewachsen. Die Leute haben schon sehr früh erkannt, dass du ein ganz formidabler Musiker bist. Nun hast du schon eine lange Karriere hinter dir. Wie bist du damit zurechtgekommen nicht mehr das Wunderkind zu sein?
Ich hatte eigentlich nie das Gefühl ein Wunderkind zu sein, da ich in der glücklichen Lage war, einen Guide zu haben. Mein Onkel – derselbe der mir Jazz und Funk gezeigt hat – hat wirklich versucht darauf achtzugeben, dass ich nicht ausgenutzt oder als Wunderkind präsentiert wurde. Dafür bin ich wirklich dankbar, vor allem, wenn ich jetzt junge Talente sehe, die 14 sind, überall spielen und große Medienaufmerksamkeit haben.
Ich begann meine Karriere zwar früh im Alter von elf Jahren, aber niemand kannte mich bis meine Karriere bereits 10 Jahre fortgeschritten war. Ich war die meiste Zeit zuhause und habe geübt und komponiert.
Dann bin ich nach Amerika gezogen und hatte Musik, die ich mit Leuten spielen wollte. Die musste ich finden und mit der Hilfe meiner Familie bezahlen. Also wie eine “normale” Karriere und nicht wie ein Wunderkind, das im Fernsehen zu sehen war und überall präsentiert wurde.
Dafür bin ich dankbar, denn ich könnte jetzt auch nicht hier sein, musikalisch gesprochen.
Improvisation scheint ein großer Teil deiner Arbeit zu sein, deine Alben klingen dann aber sehr strukturiert. Würdest du mich durch deinen Gedankenprozess beim Komponieren führen. Wo hört die Improvisation auf und der klassische Komponist übernimmt?
Ich bin ein Komponist, der auch Klavier spielt und komponiere auch die meiste Zeit am Instrument. Ich denke, dass jede Art von geschriebener Musik das Resultat von Improvisation ist. Selbst wenn der Komponist nur an seinem Tisch sitzt und schreibt, improvisiert er in seinem Kopf.
Die Musik passiert und wird in diesem Moment ins Leben gerufen. Und alle Komponisten suchen die neue Melodie, Harmonie oder Klangerlebnis.
Es ist das, was nach dem improvisieren kommt, was mir am schwersten fällt. Sich zu überlegen was niedergeschrieben wird, welche Welt man erschafft und wie man sie gestaltet. Diese Entscheidungen zu treffen ist für mich viel schwerer. So ist nicht jede meiner Kompositionen, manche gehen schnell und leicht von der Hand, aber meistens ist es so. Ich mühe mich immer etwas ab, aber auf eine gute Art.
In manchen deiner Stücke, wie zum Beispiel Vardavar, werden relativ gängige Strukturen wie zum Beispiel zwei 4/4tel Takte in diese wirklich ausgefuchsten sechzehntel Gruppen aufgeteilt. Wie nimmst du solche rhythmisch anspruchsvollen Passagen beim Komponieren wahr?
Das kommt auf die Stelle an. Manchmal fühle ich die Gruppierungen und manchmal den geraden Takt. Wenn ich zum Beispiel über die zwei Takte bei Vardavar improvisiere, spür ich lieber die Gruppierungen, das fällt mir leichter. Manchmal brauche ich aber den 4/4tel Takt.
Was das Komponieren anbelangt passiert das alles im Nachhinein. Ich schreibe ein Stück und dann analysiere ich, was ich eigentlich gerade geschaffen habe.
2020 hast du dein letztes Album “The Call Within” veröffentlicht. Welche neuen musikalischen Abenteuer sind denn gerade in Arbeit?
Etwas später diesen Monat (Jänner 2022) kommt ein Remix von einem der Songs von “The Call Within”. Ich habe auch ein gänzlich anderes Projekt in Arbeit, das im April erscheint, aber darüber will ich noch nichts verraten.
Danke, Tigran.