M* war 2020 einer von rund 8.000 inhaftierten Personen in Österreich. Sein Urteil: siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Fünf Jahre auf Bewährung und ein Jahr als sogenannter Freigänger – also tagsüber in Freiheit leben, die Abende und Nächte hingegen müssen in der Strafanstalt verbracht werden. Insgesamt war M siebeneinhalb Jahre im Gefängnis, die fünf Jahre Bewährungsstrafe wurden dann aber erlassen, da er sich in den Jahren in Haft nichts zu Schulden kommen ließ. Als Freigänger konnte er sich ein Jahr auf sein zukünftiges Leben in Freiheit vorbereiten.
Heute führt M ein komplett anderes Leben, das er sich selbst nie hätte vorstellen können und erinnert sich an schwierige Zeiten, vor allem nach seiner Haft.
Warum warst du im Gefängnis?
Ich bin mit 29 ins Gefängnis gekommen. Meine Delikte waren mehrere Gewaltdelikte – schwere Körperverletzung, schwere Sachbeschädigung, Nötigung, Morddrohung.
Was geht einem durch den Kopf, wenn man das Urteil „Freiheitsstrafe“ hört?
Im Endeffekt ist man selbst schuld, wenn man ins Gefängnis kommt. Da kommt normal keiner rein, der unschuldig ist. Deshalb erwartet man es auch schon. Ich habe von Anfang an gewusst, dass das was ich mache strafbar und illegal ist – Deshalb macht es dann im Moment, wenn man da im Gericht sitzt und das Urteil hört, nicht viel mit einem. Es ist so, dass man in Österreich schon viel tun muss, um im Gefängnis zu landen, darum dachte ich mir: Es läuft ein-, zwei-, dreimal gut, aber irgendwann fliegt man auf. Wenn man zu einem kleinen Kind sagt: „Mach‘ das nicht, du wirst dich verbrennen“. Das Kind wird das nicht sofort verstehen, aber wenn man über 20 oder 25 ist, weiß man was man tut und wenn man eben nicht nach den Regeln lebt, ist man selbst schuld.
Wie ist deine Familie mit deinem Urteil umgegangen?
Ziemlich schwer – die waren sehr traurig. Aber meine Familie wusste schon früher, dass irgendwas falsch läuft. Als sie dann aber erfuhren, dass ich für mehrere Jahre ins Gefängnis muss, war das natürlich sehr schlimm für sie. Ich habe eine super Familie und ich glaube, dass es für sie schwerer war als für mich.
Findest du, du hast die Strafe verdient?
Auf jeden Fall. Es wäre sehr traurig, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich sie nicht verdient hätte. Wie gesagt: Jeder da drin hat es verdient dort zu sein. Klar gibt es ein paar Fehlurteile aber im Großen und Ganzen, ist da alles verdient.
Hattest du Angst als du abgeführt und ins Gefängnis gebracht wurdest?
Nein, Angst hatte ich keine. Aber man merkt das schon, dass es dann so weit ist. Wenn man ein-, zweimal festgenommen wird und wieder freigelassen wird und die Polizei schon sagt, dass es knapp wird und bald die U-Haft kommt, dann ist da schon was dran. Und irgendwann kam die U-Haft dann auch und dann die Freiheitsstrafe. Man weiß es also schon lange im Vorhinein, dass da irgendwann was passieren wird.
Im Grunde denkt man sich schon, dass das eigene Leben zerstört ist und macht sich Sorgen, um die ganze Lebenszeit, die man verliert, aber man macht ja trotzdem weiter. Rückschläge sind da, um sie zu überwinden, man kommt raus und macht weiter und versucht das beste aus seiner Situation zu machen.
Gab es während der Inhaftierung Lichtblicke?
Auf jeden Fall, sonst würde man das Ganze nicht aushalten. Der Halt von draußen ist wahnsinnig wichtig. Es war immer schön, Briefe von draußen zu bekommen, wenn Besuch da war oder mit jemandem zu telefonieren. Das war schon sehr wichtig! Aber man muss auch selbst was tun, an sich selbst arbeiten.
Wie kann man sich den Alltag im Gefängnis vorstellen?
Man steht um 7 Uhr auf und geht zum Frühstück, dann fängt man um 8 Uhr an zu arbeiten – vorausgesetzt man arbeitet, nicht alle wollen arbeiten. Dann ist eine Stunde Mittagspause und dann wieder Arbeit bis 14 oder 15 Uhr. Danach ist Abendruhe.
Hast du gearbeitet und wenn ja, als was?
Ja, ich habe gearbeitet. Ich war zuerst Hausarbeiter, da wäscht man die Wäsche, verteilt das Essen, reinigt das WC und die Duschen – solche Tätigkeiten. Danach war ich Gangreiniger, da reinigt man – wie der Name schon sagt – die Gänge oder macht zum Beispiel die Betten.
Man kann aus vielen verschiedenen Tätigkeiten aussuchen, das Angebot kommt immer auf die Strafanstalt an. Normalerweise kann man auch etwas machen, was in Richtung der eigenen Ausbildung geht. Zum Beispiel Mechaniker, Tischler, Schlosser… In manchen Gefängnissen gibt es auch Gärtner.
Stichwort Orange is the new Black: Ist das Leben im Gefängnis wie es in Film und TV dargestellt wird?
(lacht) Nein, auf keinen Fall. Das Gefängnis in Österreich kannst du nicht mit dem in Filmen oder Serien vergleichen. Ich sag es dir ehrlich: In Österreich ist das Gefängnis – verglichen mit Russland, USA, Thailand und so weiter – eigentlich wie ein Hotel. Natürlich fehlt dir deine Freiheit, aber wenn man kein Kinderschänder oder Vergewaltiger ist, hat man es nicht so schwer. Es sieht von außen böse aus, versteh mich nicht falsch, es sind auch böse Menschen dort, aber meistens kommt diese Angst vor Gefängnissen auch davon, dass man nicht weiß, was dort abläuft.
Und wie ist das mit der Gewalt im Gefängnis?
Ich selbst war Gott sei Dank nie Opfer von Gewalt und es ist auch nichts Alltägliches. Aber es passiert leider schon manchmal. Das Schlimmste was ich mitbekommen habe, war dass ein Insasse von einem anderen Insassen vergewaltigt wurde.
Kann man im Gefängnis Freunde finden?
Ich denke man kann überall Freunde finden, aber in dem Gefängnis, in dem ich war, war das nicht möglich. Ich habe mit niemandem mehr Kontakt, den ich dort kennengelernt habe. Aber zu ein paar Menschen, die ich dann in der Therapie nach meiner Haft kennengelernt habe, habe ich Kontakt.
Wie war das mit deiner Drogensucht im Gefängnis? Beziehungsweise wie hat deine Sucht angefangen?
Das mit den Drogen war bei mir ein klassischer Fall: Man probiert das eine, dann das andere und irgendwann habe ich über Kokain, Marihuana bis zu Speed oder MDMA alles genommen. Da rutscht man so einfach rein. Während der Haft ist es gut gegangen.
Ich war auf kaltem Entzug, das war die ersten Tage hart, aber das habe ich einfach gebraucht, um clean zu werden. Im Gefängnis kann man es sich aussuchen, ob man auf kalten Entzug gehen will. Es gibt dort Ärzt:innen, die einem Medikamente verschreiben, wenn man welche braucht.
Was war das Schwierigste, was du während deiner Haft bewältigen musstest?
Die Zeit, die nicht vergeht. Die ersten zwei Jahre waren noch erträglich aber nach den zwei Jahren wurde es sehr schwierig. Man kommt in diesen Alltag rein, weiß aber, dass man da die nächsten Jahre nicht rauskommt.
Inwiefern hast du dich während deiner Haft verändert?
Ich bin zu einem komplett anderen Menschen geworden. Mindestens 90% meines Seins haben sich verändert. Damals hätte ich mir niemals gedacht, dass ich so ein Leben wie jetzt führen werde: Ich habe meine eigene Familie, mache eine Ausbildung und habe meine eigene Wohnung.
Man muss es aber auch wirklich wollen. Natürlich hat mir die Therapie geholfen, aber es kommt sehr auf das eigene Mindset an. Das habe ich während der Haft bekommen und als Freigänger bekam ich Hilfe von Sozialarbeiter:innen, um eine Wohnung zu finden, einen Job und so weiter.
Meine Freundin hilft mir heute noch, wenn ich Schwierigkeiten bekomme – auch psychisch.
Stichwort Freundin: Wie hat sie auf deine Vergangenheit reagiert?
Ganz normal, würde ich sagen. Oder sagen wir: Sie hat reagiert, wie es zu erwarten war. Sie war nicht begeistert, aber sie hat es akzeptiert und auch mich so akzeptiert, wie ich jetzt bin und auch wie ich einmal war.
Zum Thema Resozialisierung: Wie erging es dir, nachdem du deine Freiheit zurückbekommen hast? Was war das Allererste was du gemacht hast?
Als erstes bin ich feiern gegangen (lacht). Dieses Gefühl, wenn du wieder da draußen bist, ist unglaublich. Alles ist aufregend und man freut sich darauf, wieder ein Teil der Gesellschaft zu sein. Aber man kommt recht schnell drauf, wie schwer es tatsächlich ist. Man braucht, wie gesagt, einen Platz zum Schlafen, einen Job, Geld, ein Auto… Das macht einem dann schon Stress. Ich habe dann eine Drogen- und Gewalttherapie bekommen und wurde bei der Resozialisierung gut betreut – das hat es einfacher gemacht. Trotzdem muss diese Bewältigung vorrangig von einem selbst ausgehen.
Wie sind deine Erfahrungen mit anderen Menschen, denen du erzählst, dass du im Gefängnis warst? Wie sind deren Reaktionen?
Gemischt. Manchen ist es egal, manchen nicht und das ist auch ihr gutes Recht. Ich muss zugeben, dass es mir selbst egal geworden ist. Wenn man meine Vergangenheit akzeptiert, freue ich mich natürlich darüber, aber wenn man das nicht kann, soll es so sein. Dann sind das eben keine Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringe. Ich habe meine Leute, die mir wichtig sind und die mich so akzeptieren, wie ich bin.
Was würdest du deinem damaligen Ich heute sagen?
Da muss ich eigentlich schon viel früher anfangen. Es ist meistens so, dass Täter vorher das Opfer waren. Bei mir war das gleich: Ich war am Anfang ein Opfer und diese Wut und Aggression musste ich irgendwo abbauen und so wurde ich zum Täter. In Verbindung mit den Drogen wurde ich aggressiv, da hat ein falscher Blick, ein falsches Wort schon gereicht, damit ich auf 180 war. Und um auf deine Frage zurückzukommen, das würde ich meinem damaligen Ich sagen. Dass sich mit Gewalt einfach nichts lösen lässt und dass ich mir für meine Wut Hilfe suchen soll.
Bereust du deine Vergangenheit?
Nein. Die Taten bereue ich schon, also das was ich Menschen angetan habe, aber meine sonstige Vergangenheit nicht. Ich wäre nicht die Person, die ich heute bin, wenn irgendwas anders gelaufen wäre. Ich hätte vielleicht meine Freundin nicht kennengelernt, keine Familie gegründet – es passt also schon so wie es ist.
Wie offen gehst du mit deiner Vergangenheit um?
Schon offen. Gerade im privaten Bereich erzähle ich es nach einer Zeit oder erwähne es mal, aber für die Arbeit eher nicht, da rede ich nur darüber, wenn man nachfragt. Zum Beispiel, warum ich eine Lücke im Lebenslauf habe und was ich da gemacht habe, dann bin ich schon ehrlich und stehe dazu. Wenn man aber nicht explizit nachfragt, sage ich es nicht. Ich habe schon wo gearbeitet, wo mein Arbeitgeber nicht wusste, dass ich im Gefängnis war.
Du bist noch in Betreuung beziehungsweise Therapie. Wie war deine Erfahrung mit deinem Resozialisierungsprogramm?
In Bezug auf die Therapie ist die Resozialisierung echt gut gelungen. Die Therapie hat mir gut geholfen, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden. Man könnte es, denke ich, nicht allein schaffen. Ich kann mich noch erinnern, als ich die erste Nacht in Freiheit auf der Matratze in einer leeren Wohnung verbracht habe und wenn ich mir jetzt mein Leben ansehe, macht mich das stolz. Die Therapie allein hätte es nicht geschafft und ich allein auch nicht, da muss beides zusammenpassen, dass man aus dem Teufelskreis Kriminalität herauskommt.
Die wichtigste Komponente in der Resozialisierung war aber meine Familie. Die hat mir danach geholfen und war immer da. Sie sind auch sehr glücklich darüber, dass ich mein Leben wieder so auf die Reihe bekommen habe.
*Name von der Redaktion geändert. Quelle Bilder: Astrid Pichler.