„Ich war lange das, was ich unter abgefuckt verstehe“

Martin ist 40 Jahre alt, sechs Jahre davon hat er auf der Straße gelebt. Aus zerrüttetem Elternhaus kommend landete er zunächst im Heim und anschließend in der Obdachlosigkeit. Sein Leben war lange Zeit geprägt von Drogen, Gewalt und Polizei und das während sein eigener Vater Polizist war. Im Gespräch mit dasinterview.at zeigt Martin seine ehemaligen Schlafplätze, erklärt warum einmal wegen seinen Freunden und ihm 1700 Polizeibeamte im Einsatz waren und wie er schlussendlich den Weg von der Straße zurück in ein geregeltes Leben gemeistert hat.

Martin vor den Mauern des Alfred-Grünwald-Parks im 6. Bezirk – seinem jahrelangen Schlafplatz; Foto: privat

Interview von Johannes Schmer-Galunder, 21.12.2023

Wie bist du auf der Straße gelandet?

Ich bin das klischeehafte, aus dem Bild gehaute, gelangweilte Dorfkind aus zerrüttetem Elternhaus. 2000 Einwohner in meiner Ortschaft – da kannst genau nix machen. Meine Eltern haben früh geheiratet, super schnell vier Kinder bekommen, waren super überfordert. Was tut man dann? Man sucht sich andere frustrierte Dorfkinder und am Land ist Alkohol ein ziemliches Kavaliersdelikt. Wenn man mit 14 bei uns besoffen ist, sagt keiner was, ich habe mit elf angefangen. Mit 13 sind wir bei den Heurigen gesessen. Bis ich 15 geworden bin hat das bei mir Ausmaße angenommen, die schon bedenklich waren. Dann haben wir Drogen entdeckt und meine Eltern haben das Sorgerecht an meine Sozialarbeiterin übergeben. Die hat beschlossen ich komm in ein Heim nach Niederösterreich, weil ich ein Problemkind bin. Nach einem halben Jahr bin ich von dort „oboscht“ (abgehauen). Nach einem Jahr in Spanien, war ich in Wien auf der Straße.

Wie ging es dann in Wien weiter?

Ich habe beschlossen ich suche mir Punker, denn die halten zusammen, die machen was miteinander, besetzen Häuser, stellen Dinge auf die Beine. Das ist eine kleine Ersatzfamilie. Ich bin auf der Neubaugasse mit den ganzen Punker-Jungs herumgerannt und war zu der Zeit polytoxikomanisch, also für jedes Gift zu haben. Aber zwischen Punks fällt das halt nicht auf.

Wie hat sich dein Leben auf der Straße konkret abgespielt?

Du stehst auf, weil du am Vortag umgefallen bist. Dann geht’s zum „McBadezimmer“ (Anmerkung: auf die Toilette oder um sich zu waschen), weil einen Burger hätten wir uns nicht gekauft. Und anschließend an öffentliche Orte: Westbahnhof, Landstraße, Burggarten, Neubaugasse. Am Abend kippt man dann wieder irgendwo um, wo man einschlafen kann. Das war noch die gute Zeit.

Und die schlimme Zeit?

Schlimm wars als ich heroinsüchtig geworden bin. Da musst du was für die Nacht haben, sonst drehts dich hin und her und dir geht’s in der Früh schon dreckig. Die ersten Entzugserscheinungen sind so ein Schock. Ich habe mir dann vorgenommen so dreckig geht’s mir nie wieder und habe mir Dealer gesucht. Damals rund um die 2000er war Wien überschwemmt von Heroin. Vom Hauptbahnhof weg 6er, 18er wurscht wo du einsteigst, wurscht wo du aussteigst – es waren fast alle Dealerstationen. Ich war besonders gescheit und hab auf gut deutsch mit meinem 100er gewachelt. Tja, die prügeln sich dann und wenn du Pech hast zückt wer ein Messer.

Stichwort Gewalt – welche Ereignisse sind dir besonders in Erinnerung geblieben?

Die harten Ereignisse. Ich habe Leute sterben gesehen und zwar mehr als einen. Ich habe viel Gewalt gesehen, wo du glaubst das gibt’s nur im Fernsehen. Wie wir in letzter Zeit gesehen haben gibt es 16-Jährige, die Obdachlose ermorden. Mich hat mal einer mit einem Schlagring auf der Landstraße ziemlich hergerichtet, weil er mich verwechselt hat. Ich habe mal gesehen wie drei Rechte einen alten türkischen Mann gnadenlos verdroschen haben. Ich kenne eigentlich niemanden, der in meinem Alter lange auf der Straße war und nicht in irgendeiner Form mit sexueller Gewalt konfrontiert war.

Sexuelle Gewalt?

Ja, auch sexuelle Gewalt. Ich bin ein Süchtiger beziehungsweise Alkoholiker, mir kann man viel antun bevor ich munter werde. Unter Umständen schlafe ich in einer Notschlafstelle, aber wer weiß, ob sich nicht um vier in der Nacht wer zu einem ins Bett legt. Das war einer meiner größten Ängste, deshalb habe ich nicht in Notschlafstellen oder einer Ecke von der Straße geschlafen, sondern bin in Parks wie diesen gegangen.

Dieser Park ist der Alfred-Grünwald-Park im sechsten Bezirk und liegt direkt neben der größten Nachrichtenagentur Österreichs, der Austria Presse Agentur (APA). Was ist an diesem Park so besonders?

Die hohen Mauern waren der Grund warum ich den Park entdeckt habe. Der Park wird um zehn am Abend zugesperrt bis sechs in der Früh. Das wusste ich nicht bis die ersten Leute von der APA in der Früh gekommen sind. Wenn du mal einen Platz zum Schlafen findest wartest du nur drauf wer dich vertreibt, nicht ob dich wer vertreibt. Die Leute von der APA waren aber nett, die haben nicht die Polizei gerufen. Ab der vierten, fünften Nacht, die ich da geschlafen habe, hat mir irgendwer von der APA jeden Tag einen Kaffee hingestellt vom Mäci. Der hat mir jeden Tag 1,50 Euro spendiert. Er hätte mir mit 150 nicht mehr Freude machen können. Du stehst auf und fühlst dich nicht so unwillkommen.

Martin blickt auf seinen ehemaligen Schlafplatz im Park – die Waschbetonplatten neben der Hausmauer; Foto: privat

Wie bewältigt man am besten den Alltag auf der Straße?

Ich habe immer Punks um mich gehabt und die haben mir ihre Tricks gezeigt. Ich habe eine Zeit lang selten de facto auf der Straße geschlafen, weil die Punks überall kleine Matratzen, Waggons, alte hinige Autos oder Abbruchhäuser haben. Wenn ich dort nicht war, dann eben in meinem Park. Da habe ich mich auf die Waschbetonplatten gelegt. Am Boden ist ein schlechter Tipp, vor allem auf der Erde, denn die kühlt aus, auch im Sommer und bei Regen sinkst du ab. Wenn du keinen Baum über dir hast und du schläfst im Sommer bis Mittag durch, dann hast du einen halbseitigen Sonnenbrand und schaust aus wie ein Trottel.

Du sprichst sehr oft von Punkern – wie definierst du Punk?

Für mich hat Punk viel mit Verzicht zu tun und deshalb zähle ich mich auch selbst nicht mehr dazu. Auf der einen Seite heißt es sie gehen nicht arbeiten und das wird als Faulheit ausgelegt. Aber überlege mal auf was du alles verzichtest: die ganzen Annehmlichkeiten des Alltags, das Ansehen des Durchschnittsbürgers. Du bist nicht das was von der Allgemeinheit als gutaussehend bezeichnet wird. Wenn mich wer fragt, würdest du dich als Punker bezeichnen, würde ich sagen: im Herzen schon. Für mich ist ein Punk was ganz Tolles.

Du hast bereits erwähnt, dass Punker viele Häuser besetzt haben. Die Besetzung der Pizzeria Anarchia etwa hat für viele Schlagzeilen gesorgt – wie ist es dazu gekommen?

Eines Tages ist ein Mann in die Punkerhütte gekommen und hat gesagt er bietet uns sein Haus im zweiten Bezirk an. Wir alle haben uns schon gedacht da kann was nicht stimmen und kaum kommen wir ins Haus brüllt eine 50-jährige Dame „du kannst hier einquartieren wen du willst, ich ziehe nicht aus“. Die Idee dahinter war also, dass wir für ihn diese Frau verjagen. Zwar hat er das nicht so gesagt, aber wir haben das durchschaut. Mit der Dame da drinnen haben wir uns alle dann aber so gut verstanden, wir haben sie geliebt und sie uns. Sie hat regelmäßig zu viel gekocht. Sie hat sich mal vor die Kiwara gestellt und geschrien „Lasst meine Kinder in Ruhe“.

Das Haus wurde dann im Juli 2014 zwangsgeräumt…

Wir 19 Punker sind sehenden Auges in eine Schlacht gegen 1700 Cops gehüpft. Wir haben Kaffee, Kuchen und ein Theaterstück für die Cops vorbereitet „warum Räumungen wehtun“. Wir hätten einen Einkaufswagen zu einem Polizeiauto umgebaut und ich wäre mit „tatü tata“ reingefahren, aber wenn 1700 Polizisten aufmarschieren vergeht dir der Humor. „Wien spielt Krieg“ hat der Falter damals geschrieben. Die Pizzeria Anarchia war mein kleiner “Glame to Fame”.

Bilder, wie dieses von der Besetzung der Pizzeria Anarchia, gingen 2024 durch die österreichischen Medien; Foto: privat

Ist Wien eine „gute“ Stadt für Obdachlose? Hat man hier gute Möglichkeiten auf der Straße zu leben?

Jein. Einerseits bin ich total begeistert, wir haben wirklich viele Angebote. In Wien verhungern, das musst absichtlich machen oder ein kompletter Idiot sein. Was mich doch ein bisschen stört und ich glaube das hat sich nicht geändert: die Obdachlosenzahlen werden recht ignorant erhoben. Von den im Winter angebotenen Schlafplätzen wie viele sind belegt – so viele Obdachlose haben wir, was natürlich ein Schwachsinn ist. Weil überleg mal wer da aller nicht reingeht oder nicht reindarf.

Macht die Politik aus deiner Sicht genug für Obdachlose?

Kurz vor den Wahlen ja. Aber nein eher nicht. Ich glaube zwar, dass sich das gebessert hat oder bessern wird dadurch, dass Obdachlose jetzt wieder stark im Fokus stehen nach den grauslichen Geschichten im Sommer. Aber wenn die Politik so viel für Obdachlose tun würde, wie konnte dann der Praterstern gerade zum Paradebeispiel für defensive Architektur umgebaut werden? Sowas habe ich noch nie gesehen: Steine damit man runterrutscht, Stacheln damit man nicht liegen kann und Zwischenlehnen überall. Alles dort sagt: Setz dich her, aber schleich dich wieder.

Bleiben wir noch bei Wien als Stadt – wie gehen Dealer hierzulande mit ihren Drogen um?

Sagen wir du kaufst Heroin, da ist zwischen fünf und 20 Prozent Heroin drin, der Rest ist irgendwas. Das ist gestreckt mit was auch immer. Die sind da nicht zimperlich und ich habe einige Freunde aufgrund dessen ins Grab getragen. Einer war mein bester Freund und verdammt jung damals. Er hatte Betäubungsmittel in seinem Heroin. Heroin fährt dich eh schon runter und wenn du dann noch Anästhetika drinnen hast, dann erstickst du im Schlaf. Ihm ist das auf einem U-Bahn-Klo passiert, auf dem er sich selbst eingesperrt hat, sodass ihm niemand helfen hat können. Was die Dealer da reinmischen ist ihnen relativ wurscht, da wird überall gestreckt bei Kokain, Heroin, Ectasy…

Wenn du so viel von Drogen sprichst könnte man auf die Idee kommen Wien als Drogenstadt zu bezeichnen…

Ist sie ja, würde ich schon sagen oder? Heutzutage kommts mir nicht mehr so schlimm vor, die Kids gehen ein bisschen schlauer mit Drogen um und sind konservativer, als zu unserer Zeit. Damals war es echt arg: wo du hingeschaut hast waren Süchtige, die meisten davon waren keine Heroin-Süchtigen, sondern Substitol-Süchtige, das Morphium-Zeug, das man von der Apotheke kriegt. Das ist auch das viel schlimmere Zeug, das nehme ich bis heute, ich bin also 16 Jahre dran hängengeblieben. Mit Heroin habe ich ein On/Off-Beziehung gehabt, das war nicht leicht, es war die Hölle auf Erden, aber ich habe es ein paar Mal geschafft, mit Substitol in 16 Jahren nicht. Die Rückfallquote zu der Zeit lag bei 93 Prozent, hat mir jemand gesagt. Ich nehme nicht an, dass sich das viel geändert hat. Morphium ist ein ziemliches Klumpert.

Würdest du sagen du hast jetzt ein neues Leben?

Absolut, jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben was zu verlieren. Ich habe meine Wohnung, meine Hunde, meine Firma, meine Freundin, das sind alles die unabdingbaren Sachen ohne die ich nicht mehr leben kann. Dass ich jetzt wieder was habe ist schon ein Druck, ich merke wie ich wieder Panikattacken bekomme und mir wieder einen Therapeuten suchen muss, aber das ist es mir alle Male wert.

Unser Überthema für dieses Interviewprojekt ist „abgefuckt“ – würdest du dich selbst als abgefuckt bezeichnen?

Ich war so lange das was ich unter abgefuckt verstehe. Ich finde, ein abgefuckter Mensch ist nur ein Mensch, der mit Chaos gut umgehen kann. Jemand der nicht so viel Wert auf ein äußerliches Erscheinungsbild legt oder eine Fassadenpolitur. Und ich war ein Mensch, der sich in einem Zimmer erst wohl gefühlt hat, wenn die Couch umgeschmissen ist, sodass man auf der Lehne sitzt und sich auf der Sitzfläche anlehnt.

Wenn man auf der Straße landet, wie gelingt am besten der Weg zurück?

Du musst einen Grund finden. Bei mir war der Hauptgrund, dass meine Freundin sieben Jahre jünger als ich war und mindestens, wenn nicht genauso deppat wie ich. Ich habe quasi den Vernünftigen spielen müssen, denn sie hätte es nicht gemacht. Und Gott sei Dank hat sie sich drauf eingelassen, weil jedes Mal, wenn ich gestrauchelt habe, hat sie das übernommen. Finde etwas das dir noch wichtiger als die scheiß Drogen, so hat es bei mir funktioniert.

Wie würdest du dein Leben in einem Wort zusammenfassen?

Konsequenzen. Ich deale heute mit 40 mit den Konsequenzen von dem was ich mit 15 entschieden habe. Da kann man sich gut überlegen, ob man das auch will.