„Spätestens wenn jemand bewusstlos ist, wird aber aufgehört.”

Bene beim Bandagieren seiner Hände. Die Fotos und Videos sind nach unserem Interview entstanden.
Bene beim Bandagieren seiner Hände.
Bene mit einbandagierten Händen
Bene beim Lösen seiner Bandagen

„Ich war lange das, was ich unter abgefuckt verstehe“

Martin ist 40 Jahre alt, sechs Jahre davon hat er auf der Straße gelebt. Aus zerrüttetem Elternhaus kommend landete er zunächst im Heim und anschließend in der Obdachlosigkeit. Sein Leben war lange Zeit geprägt von Drogen, Gewalt und Polizei und das während sein eigener Vater Polizist war. Im Gespräch mit dasinterview.at zeigt Martin seine ehemaligen Schlafplätze, erklärt warum einmal wegen seinen Freunden und ihm 1700 Polizeibeamte im Einsatz waren und wie er schlussendlich den Weg von der Straße zurück in ein geregeltes Leben gemeistert hat.

Martin vor den Mauern des Alfred-Grünwald-Parks im 6. Bezirk – seinem jahrelangen Schlafplatz; Foto: privat

Interview von Johannes Schmer-Galunder, 21.12.2023

Wie bist du auf der Straße gelandet?

Ich bin das klischeehafte, aus dem Bild gehaute, gelangweilte Dorfkind aus zerrüttetem Elternhaus. 2000 Einwohner in meiner Ortschaft – da kannst genau nix machen. Meine Eltern haben früh geheiratet, super schnell vier Kinder bekommen, waren super überfordert. Was tut man dann? Man sucht sich andere frustrierte Dorfkinder und am Land ist Alkohol ein ziemliches Kavaliersdelikt. Wenn man mit 14 bei uns besoffen ist, sagt keiner was, ich habe mit elf angefangen. Mit 13 sind wir bei den Heurigen gesessen. Bis ich 15 geworden bin hat das bei mir Ausmaße angenommen, die schon bedenklich waren. Dann haben wir Drogen entdeckt und meine Eltern haben das Sorgerecht an meine Sozialarbeiterin übergeben. Die hat beschlossen ich komm in ein Heim nach Niederösterreich, weil ich ein Problemkind bin. Nach einem halben Jahr bin ich von dort „oboscht“ (abgehauen). Nach einem Jahr in Spanien, war ich in Wien auf der Straße.

Wie ging es dann in Wien weiter?

Ich habe beschlossen ich suche mir Punker, denn die halten zusammen, die machen was miteinander, besetzen Häuser, stellen Dinge auf die Beine. Das ist eine kleine Ersatzfamilie. Ich bin auf der Neubaugasse mit den ganzen Punker-Jungs herumgerannt und war zu der Zeit polytoxikomanisch, also für jedes Gift zu haben. Aber zwischen Punks fällt das halt nicht auf.

Wie hat sich dein Leben auf der Straße konkret abgespielt?

Du stehst auf, weil du am Vortag umgefallen bist. Dann geht’s zum „McBadezimmer“ (Anmerkung: auf die Toilette oder um sich zu waschen), weil einen Burger hätten wir uns nicht gekauft. Und anschließend an öffentliche Orte: Westbahnhof, Landstraße, Burggarten, Neubaugasse. Am Abend kippt man dann wieder irgendwo um, wo man einschlafen kann. Das war noch die gute Zeit.

Und die schlimme Zeit?

Schlimm wars als ich heroinsüchtig geworden bin. Da musst du was für die Nacht haben, sonst drehts dich hin und her und dir geht’s in der Früh schon dreckig. Die ersten Entzugserscheinungen sind so ein Schock. Ich habe mir dann vorgenommen so dreckig geht’s mir nie wieder und habe mir Dealer gesucht. Damals rund um die 2000er war Wien überschwemmt von Heroin. Vom Hauptbahnhof weg 6er, 18er wurscht wo du einsteigst, wurscht wo du aussteigst – es waren fast alle Dealerstationen. Ich war besonders gescheit und hab auf gut deutsch mit meinem 100er gewachelt. Tja, die prügeln sich dann und wenn du Pech hast zückt wer ein Messer.

Stichwort Gewalt – welche Ereignisse sind dir besonders in Erinnerung geblieben?

Die harten Ereignisse. Ich habe Leute sterben gesehen und zwar mehr als einen. Ich habe viel Gewalt gesehen, wo du glaubst das gibt’s nur im Fernsehen. Wie wir in letzter Zeit gesehen haben gibt es 16-Jährige, die Obdachlose ermorden. Mich hat mal einer mit einem Schlagring auf der Landstraße ziemlich hergerichtet, weil er mich verwechselt hat. Ich habe mal gesehen wie drei Rechte einen alten türkischen Mann gnadenlos verdroschen haben. Ich kenne eigentlich niemanden, der in meinem Alter lange auf der Straße war und nicht in irgendeiner Form mit sexueller Gewalt konfrontiert war.

Sexuelle Gewalt?

Ja, auch sexuelle Gewalt. Ich bin ein Süchtiger beziehungsweise Alkoholiker, mir kann man viel antun bevor ich munter werde. Unter Umständen schlafe ich in einer Notschlafstelle, aber wer weiß, ob sich nicht um vier in der Nacht wer zu einem ins Bett legt. Das war einer meiner größten Ängste, deshalb habe ich nicht in Notschlafstellen oder einer Ecke von der Straße geschlafen, sondern bin in Parks wie diesen gegangen.

Dieser Park ist der Alfred-Grünwald-Park im sechsten Bezirk und liegt direkt neben der größten Nachrichtenagentur Österreichs, der Austria Presse Agentur (APA). Was ist an diesem Park so besonders?

Die hohen Mauern waren der Grund warum ich den Park entdeckt habe. Der Park wird um zehn am Abend zugesperrt bis sechs in der Früh. Das wusste ich nicht bis die ersten Leute von der APA in der Früh gekommen sind. Wenn du mal einen Platz zum Schlafen findest wartest du nur drauf wer dich vertreibt, nicht ob dich wer vertreibt. Die Leute von der APA waren aber nett, die haben nicht die Polizei gerufen. Ab der vierten, fünften Nacht, die ich da geschlafen habe, hat mir irgendwer von der APA jeden Tag einen Kaffee hingestellt vom Mäci. Der hat mir jeden Tag 1,50 Euro spendiert. Er hätte mir mit 150 nicht mehr Freude machen können. Du stehst auf und fühlst dich nicht so unwillkommen.

Martin blickt auf seinen ehemaligen Schlafplatz im Park – die Waschbetonplatten neben der Hausmauer; Foto: privat

Wie bewältigt man am besten den Alltag auf der Straße?

Ich habe immer Punks um mich gehabt und die haben mir ihre Tricks gezeigt. Ich habe eine Zeit lang selten de facto auf der Straße geschlafen, weil die Punks überall kleine Matratzen, Waggons, alte hinige Autos oder Abbruchhäuser haben. Wenn ich dort nicht war, dann eben in meinem Park. Da habe ich mich auf die Waschbetonplatten gelegt. Am Boden ist ein schlechter Tipp, vor allem auf der Erde, denn die kühlt aus, auch im Sommer und bei Regen sinkst du ab. Wenn du keinen Baum über dir hast und du schläfst im Sommer bis Mittag durch, dann hast du einen halbseitigen Sonnenbrand und schaust aus wie ein Trottel.

Du sprichst sehr oft von Punkern – wie definierst du Punk?

Für mich hat Punk viel mit Verzicht zu tun und deshalb zähle ich mich auch selbst nicht mehr dazu. Auf der einen Seite heißt es sie gehen nicht arbeiten und das wird als Faulheit ausgelegt. Aber überlege mal auf was du alles verzichtest: die ganzen Annehmlichkeiten des Alltags, das Ansehen des Durchschnittsbürgers. Du bist nicht das was von der Allgemeinheit als gutaussehend bezeichnet wird. Wenn mich wer fragt, würdest du dich als Punker bezeichnen, würde ich sagen: im Herzen schon. Für mich ist ein Punk was ganz Tolles.

Du hast bereits erwähnt, dass Punker viele Häuser besetzt haben. Die Besetzung der Pizzeria Anarchia etwa hat für viele Schlagzeilen gesorgt – wie ist es dazu gekommen?

Eines Tages ist ein Mann in die Punkerhütte gekommen und hat gesagt er bietet uns sein Haus im zweiten Bezirk an. Wir alle haben uns schon gedacht da kann was nicht stimmen und kaum kommen wir ins Haus brüllt eine 50-jährige Dame „du kannst hier einquartieren wen du willst, ich ziehe nicht aus“. Die Idee dahinter war also, dass wir für ihn diese Frau verjagen. Zwar hat er das nicht so gesagt, aber wir haben das durchschaut. Mit der Dame da drinnen haben wir uns alle dann aber so gut verstanden, wir haben sie geliebt und sie uns. Sie hat regelmäßig zu viel gekocht. Sie hat sich mal vor die Kiwara gestellt und geschrien „Lasst meine Kinder in Ruhe“.

Das Haus wurde dann im Juli 2014 zwangsgeräumt…

Wir 19 Punker sind sehenden Auges in eine Schlacht gegen 1700 Cops gehüpft. Wir haben Kaffee, Kuchen und ein Theaterstück für die Cops vorbereitet „warum Räumungen wehtun“. Wir hätten einen Einkaufswagen zu einem Polizeiauto umgebaut und ich wäre mit „tatü tata“ reingefahren, aber wenn 1700 Polizisten aufmarschieren vergeht dir der Humor. „Wien spielt Krieg“ hat der Falter damals geschrieben. Die Pizzeria Anarchia war mein kleiner “Glame to Fame”.

Bilder, wie dieses von der Besetzung der Pizzeria Anarchia, gingen 2024 durch die österreichischen Medien; Foto: privat

Ist Wien eine „gute“ Stadt für Obdachlose? Hat man hier gute Möglichkeiten auf der Straße zu leben?

Jein. Einerseits bin ich total begeistert, wir haben wirklich viele Angebote. In Wien verhungern, das musst absichtlich machen oder ein kompletter Idiot sein. Was mich doch ein bisschen stört und ich glaube das hat sich nicht geändert: die Obdachlosenzahlen werden recht ignorant erhoben. Von den im Winter angebotenen Schlafplätzen wie viele sind belegt – so viele Obdachlose haben wir, was natürlich ein Schwachsinn ist. Weil überleg mal wer da aller nicht reingeht oder nicht reindarf.

Macht die Politik aus deiner Sicht genug für Obdachlose?

Kurz vor den Wahlen ja. Aber nein eher nicht. Ich glaube zwar, dass sich das gebessert hat oder bessern wird dadurch, dass Obdachlose jetzt wieder stark im Fokus stehen nach den grauslichen Geschichten im Sommer. Aber wenn die Politik so viel für Obdachlose tun würde, wie konnte dann der Praterstern gerade zum Paradebeispiel für defensive Architektur umgebaut werden? Sowas habe ich noch nie gesehen: Steine damit man runterrutscht, Stacheln damit man nicht liegen kann und Zwischenlehnen überall. Alles dort sagt: Setz dich her, aber schleich dich wieder.

Bleiben wir noch bei Wien als Stadt – wie gehen Dealer hierzulande mit ihren Drogen um?

Sagen wir du kaufst Heroin, da ist zwischen fünf und 20 Prozent Heroin drin, der Rest ist irgendwas. Das ist gestreckt mit was auch immer. Die sind da nicht zimperlich und ich habe einige Freunde aufgrund dessen ins Grab getragen. Einer war mein bester Freund und verdammt jung damals. Er hatte Betäubungsmittel in seinem Heroin. Heroin fährt dich eh schon runter und wenn du dann noch Anästhetika drinnen hast, dann erstickst du im Schlaf. Ihm ist das auf einem U-Bahn-Klo passiert, auf dem er sich selbst eingesperrt hat, sodass ihm niemand helfen hat können. Was die Dealer da reinmischen ist ihnen relativ wurscht, da wird überall gestreckt bei Kokain, Heroin, Ectasy…

Wenn du so viel von Drogen sprichst könnte man auf die Idee kommen Wien als Drogenstadt zu bezeichnen…

Ist sie ja, würde ich schon sagen oder? Heutzutage kommts mir nicht mehr so schlimm vor, die Kids gehen ein bisschen schlauer mit Drogen um und sind konservativer, als zu unserer Zeit. Damals war es echt arg: wo du hingeschaut hast waren Süchtige, die meisten davon waren keine Heroin-Süchtigen, sondern Substitol-Süchtige, das Morphium-Zeug, das man von der Apotheke kriegt. Das ist auch das viel schlimmere Zeug, das nehme ich bis heute, ich bin also 16 Jahre dran hängengeblieben. Mit Heroin habe ich ein On/Off-Beziehung gehabt, das war nicht leicht, es war die Hölle auf Erden, aber ich habe es ein paar Mal geschafft, mit Substitol in 16 Jahren nicht. Die Rückfallquote zu der Zeit lag bei 93 Prozent, hat mir jemand gesagt. Ich nehme nicht an, dass sich das viel geändert hat. Morphium ist ein ziemliches Klumpert.

Würdest du sagen du hast jetzt ein neues Leben?

Absolut, jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben was zu verlieren. Ich habe meine Wohnung, meine Hunde, meine Firma, meine Freundin, das sind alles die unabdingbaren Sachen ohne die ich nicht mehr leben kann. Dass ich jetzt wieder was habe ist schon ein Druck, ich merke wie ich wieder Panikattacken bekomme und mir wieder einen Therapeuten suchen muss, aber das ist es mir alle Male wert.

Unser Überthema für dieses Interviewprojekt ist „abgefuckt“ – würdest du dich selbst als abgefuckt bezeichnen?

Ich war so lange das was ich unter abgefuckt verstehe. Ich finde, ein abgefuckter Mensch ist nur ein Mensch, der mit Chaos gut umgehen kann. Jemand der nicht so viel Wert auf ein äußerliches Erscheinungsbild legt oder eine Fassadenpolitur. Und ich war ein Mensch, der sich in einem Zimmer erst wohl gefühlt hat, wenn die Couch umgeschmissen ist, sodass man auf der Lehne sitzt und sich auf der Sitzfläche anlehnt.

Wenn man auf der Straße landet, wie gelingt am besten der Weg zurück?

Du musst einen Grund finden. Bei mir war der Hauptgrund, dass meine Freundin sieben Jahre jünger als ich war und mindestens, wenn nicht genauso deppat wie ich. Ich habe quasi den Vernünftigen spielen müssen, denn sie hätte es nicht gemacht. Und Gott sei Dank hat sie sich drauf eingelassen, weil jedes Mal, wenn ich gestrauchelt habe, hat sie das übernommen. Finde etwas das dir noch wichtiger als die scheiß Drogen, so hat es bei mir funktioniert.

Wie würdest du dein Leben in einem Wort zusammenfassen?

Konsequenzen. Ich deale heute mit 40 mit den Konsequenzen von dem was ich mit 15 entschieden habe. Da kann man sich gut überlegen, ob man das auch will.

„Ob es verboten ist oder nicht, Sexarbeit wird es immer geben.“

Ella* ist Elementarpädagogin. Was in ihrer Arbeit niemand weiß: Sie war auch Sexarbeiterin. Für einen Monat hat sie sich mit Männern getroffen, um mit ihnen Sex für Geld zu haben. Wir haben sie im November 2023 interviewt und mit ihr über ihre Perspektiven gesprochen.

*Ella wollte für dieses Interview anonym bleiben. Ihr Name wurde geändert.

Wie bist du zur Sexarbeit gekommen?

Ich bin ziemlich aktiv auf Instagram und rede dort sehr offen über Sex und Sexualität. Bei einer Fragerunde hat mich mal jemand gefragt, ob ich schon mal überlegt habe, Nacktbilder zu verkaufen. Am Anfang hatte ich keinen Plan davon, wie man das macht. Ein Euro für ein Bild? Oder zehn? Dann habe ich begonnen, mich zu informieren und das ordentlich zu machen. Vor einem Jahr habe ich dann angefangen, mich mit Männern für Geld zu treffen.

Was arbeitest du hauptberuflich?

Ich arbeite als Elementarpädagogin im Kindergarten und bin ausgebildete Sexualpädagogin.

Hat das mal zu Problemen geführt?

Nein, eigentlich nicht. Aber die Angst, dass auf einmal der Papa eines Kindes vor mir steht, war schon da. Ist aber zum Glück nie passiert.

Wie viel hast du verdient?

Ich habe für eine Stunde 100 € verlangt. Es gibt viele, die mehr verlangen, aber auch welche, bei denen es unter 100 € kostet. Ich hätte mehr verlangen können, hätte dann aber länger gebraucht, Kunden zu finden, und so wäre es dann wieder weniger Geld gewesen.

Welche Plattform hast du benutzt?

Ich habe das über die Website Booksusi gemacht. Dort kann man ein Profil erstellen. Für das zahlt man 20–25€ in einem Monat – das hat man schnell wieder drinnen. Auf dem Profil lädt man Bilder hoch und gibt Kategorien wie Größe, Gewicht und Haarfarbe an. Und welche Services man bietet. Da gibt es viel Verschiedenes, wie Blowjob, Fetischkategorien und so weiter. Und die Kunden suchen dann genau nach diesen Kategorien.

Benutzt du Onlyfans?

Habe ich mal probiert, aber sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht. Man muss 15 Prozent des Verdiensts abgeben. Das klingt nicht so viel, ist aber sehr viel dafür, dass sie gar nichts für dich machen. Zum Beispiel musst du deine Werbung selbst über eine externe Plattform schalten.

Unter Sexarbeit wird die „gewerbsmäßig und gegen Entgelt erbrachte Handlungen mit Körperkontakt“ definiert. 1974 wurde Sexarbeit in Österreich  in Österreich entkriminalisiert und unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. In den Bundes- und Landesgesetzen wurden dazu genaue Regelungen festgelegt. Sexarbeiter:innen sind beispielsweise dazu verpflichtet, sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten und Infektionen wie HIV und Syphilis zu testen.

Ist Sexarbeit Arbeit?

Ja, da gibt es eh seit langer Zeit die Diskussion. Weil viele meinen Sexarbeit sollte verboten werden. Weil Frauen ausgebeutet werden und aus Zwangssituationen oder einer prekären Situation heraus quasi dazu gezwungen sind. Und weil wir im Patriarchat leben und es viele Männer gibt, die Frauen ausnutzen und übergriffig sind. Ich finde in der Diskussion wird viel zu wenig differenziert. Ich habe meine Ausbildung zur Sexualpädagogin bei der Beratungsstelle Sophie gemacht und dort sehr viel dazugelernt. Ich verwende zum Beispiel bewusst den Begriff Zwangsprostitution nicht. Was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist, ist Menschenhandel. Und das ist illegal und sollte es natürlich nicht geben. Das, was freiwillig passiert, ist Sexarbeit. Es ist für viele einfach Lohnarbeit. So wie andere halt Reinigungskraft sind. Und die wenigsten sind gerne Reinigungskraft. Die Wenigsten lieben ihren 40-Stunden-Job. Manche machen eben lieber Sexarbeit, um Geld zu verdienen.

Es gibt Menschen, die Sexarbeit verbieten wollen. Was hältst du davon?

Ob es verboten ist oder nicht, Sexarbeit wird es immer geben. Darum finde ich machen Verbote hier keinen Sinn. Es führt nämlich nicht dazu, dass es nicht passiert, sondern nur dazu, dass die Arbeit nicht geschützt ist. Es gibt dann keine Regelungen und keine Rechte für die Sexarbeiter:innen. Es soll eher an sicheren Bedingungen gearbeitet werden und offener darüber gesprochen werden. Und Betroffene sollten, wie immer, miteinbezogen werden.

Was waren Probleme, mit denen du konfrontiert warst?

Auf Booksusi kannst du deine Nummer angeben und deine Arbeitsbedingungen festlegen. Ich habe meine Arbeitszeiten angegeben und dass ich nur über das Profil kontaktiert werden möchte. Das ignorieren aber fast alle. Ich wurde den ganzen Tag über angerufen. Sie versuchen auch oft zu verhandeln. Ich habe angegeben, dass eine Stunde mit Kondom 100 € kostet. Im Endeffekt schreiben sie mir auf WhatsApp; „Eine Stunde ohne Kondom für 50€ okay?” Du hast also viel mit nervigen Typen zu tun und die Arbeit ist sehr zeitintensiv.

Welche Info hättest du gerne früher gehabt?

Es gibt sogenannte „Tastenwichser“. Das sind Typen, die nur mit dir schreiben und wollen, dass du ihnen Bilder schickst. Im Endeffekt wollen die kein Treffen. Sie versuchen nur so viel wie möglich herauszuholen, ohne zu zahlen. Darauf bin ich am Anfang reingefallen, das hätte ich gerne früher gewusst.

Wer war dein jüngster Kunde? Wer dein Ältester?

Der Jüngste war 19 Jahre alt. Ich war sein erstes Mal. Mein ältester Kunde war ein 56-jähriger, erfolgreicher Geschäftsmann.

Außergewöhnlichster Kunde?

Einmal hatte ich einen Kunden, den fand ich sehr spannend. Der war 30 Jahre alt und hatte eine Sexsucht. Der hat seine Arbeit geschwänzt, um zu Sexarbeiterinnen zu gehen. Er war sonst eigentlich kein außergewöhnlicher Typ. Er hat bei einer Menschenrechts-NGO gearbeitet und war eigentlich ziemlich cool.

Lieblingskunde?

Da gibt es zwei, ein Couple, von dem die eine selbst einmal Sexarbeiterin war. Die waren sehr respektvoll zu mir und irgendwie lustig. Er war früher auch Kunde von ihr, und dann sind sie zusammengekommen und jetzt seit 5 Jahren verheiratet. Und einmal habe ich ein bisschen auf einen Kunden gecrusht. Wir haben uns dann einmal noch getroffen, aber daraus ist dann nichts geworden.

Sind alle Kunden so nett?

Mir ist wichtig zu sagen, dass ich aus einer sehr privilegierten Situation erzähle. Ich habe das neben meinem Job gemacht, um mir Geld dazu zu verdienen. Ich war nicht davon abhängig. Das heißt, ich konnte mir die Kunden aussuchen und hatte nur nette, respektvolle Kunden. Andere haben dieses Privileg nicht, und es gibt natürlich viele widerliche Typen. Viele haben auch Migrationsgeschichte, können sich so weniger gut verständigen und sind verstärkt Diskriminierung ausgesetzt.

Welche Grenzen hast du gesetzt?

Ich habe nie meinen richtigen Namen verraten. Meine Bilder sind immer ohne Gesicht. Generell habe ich private Infos, wie meinen Job, für mich behalten. Und ich habe manche Services nicht angeboten. Ich hatte zum Beispiel nie ohne Kondom Sex, auch nicht für mehr Geld. Außerdem habe ich nie Hausbesuche gemacht. Das war mir zu unsicher.

Symbolbild Pixabay

Wo waren die Treffen?

Ich hab übers Wochenende Hotels in Wien gebucht. Da gibt es Hotels, die man online bucht, die keine Rezeption haben, sondern Zimmercodes. Das hat mich unter 100 Euro gekostet. Das hatte ich leicht wieder drinnen. Und es hatte den Vorteil, dass ich die Typen vorher duschen schicken konnte.

Symbolbild Pixabay

Wie viele Stunden hast du gearbeitet?

Übers Wochenende hatte ich maximal sechs Kunden. Also höchstens drei pro Tag, das war mein Limit. Aber die Arbeit ist ja viel mehr als das. Du bekommst durchgehend Anfragen und Anrufe. Du musst aussortieren und dir Treffen ausmachen. Das ist alles in allem sehr zeitintensiv.

Wie hat dein Umfeld reagiert, wenn sie von deinem Nebenjob erfahren haben?

Es gab sicher auch negative Reaktionen, aber ich kann dir jetzt keine explizite nennen. Weil es mir auch egal ist, wenn Leute das nicht gut finden. Ich bin eine sehr offene Person, was das betrifft. Ich glaube, dadurch, dass ich so offen damit umgehe, könnte man mich auch nicht so damit fertig machen.

Hast du deinen Eltern davon erzählt?

Ja, ich habe meiner Mama davon erzählt. Meine Mama ist aber auch sehr offen, was das betrifft. Sie hat selbst eine Ausbildung zur Sexualpädagogin und geht auch immer wieder in Swingerclubs. Die hat damit also kein Problem und weiß auch selbst, wie das so abläuft. Mein Papa weiß nicht Bescheid, aber ich habe ihm das nie bewusst nicht erzählt. Also ich hätte kein Problem damit, wenn er es weiß. Bis jetzt hat es sich nur noch nicht ergeben.

Welches Gefühl verbindest du mit Sexarbeit?

Ich habe die Zeit sehr positiv in Erinnerung. Aber es war immer noch Arbeit für mich. Und es macht schon etwas mit einem. Ich weiß nicht, ob es gesellschaftliche Vorurteile sind oder etwas Persönliches, aber irgendwas macht es mit einem.

Würdest du es noch einmal machen?

Ich verkaufe immer noch Bilder und Videos. Treffen kann ich mir derzeit nicht vorstellen. Weil es einfach sehr zeitintensiv ist. Das war auch der Grund, wieso ich mit den Treffen wieder aufgehört habe. Ich habe ja schon einen Vollzeitjob.

Was fuckt dich ab, wenn du an Sexarbeit denkst?

Das Unwissen. Die vielen Vorurteile und Stigmata. Und vor allem das Schwarz-Weiß-Denken. Ich finde nicht, dass Sexarbeit feministisch ist, aber auch nicht per se antifeministisch. Es gibt ganz viele verschiedene Arten von Sexarbeit. Da sollte viel mehr differenziert werden.

Das Thema Sexarbeit wird in der Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert. Die Debatte reicht von der Anerkennung von Sexarbeit als legitime Erwerbsquelle bis hin zur Argumentation der Ausbeutung von Frauen und der Gefährdung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. 

„Männer wollen einfach ficken wann, wie und mit wem wir grade Lust haben ohne Diskussionen. Punkt.“