Er ist allgegenwärtig, aber doch unbekannt. Die Rede ist vom Handstand.
Elise Missall, Gründerin und Chefredakteurin des weltweit ersten Handstandmagazins ,,The Handstand Press Magazine“, spricht über die Vielschichtigkeit des auf den Händen Stehens und wie sich dieser Perspektivenwechsel auf das eigene Leben auswirkt.
Interview von Darja Novak
Kann jeder Handstand lernen?
Sobald es nichts Physisches gibt, das einen zurückhält – absolut! Es ist allerdings ein langer Prozess, was viele Menschen oft vergessen. Zu mir kommen oft Leute, die sagen: „Kannst du mir in zwei Wochen Handstand beibringen?“, wo man dann einfach sagen muss, bei einem Jahr bist du gut dabei. Aber solange man Lust darauf hat und auch durchgängig übt, kann jeder, egal in welchem Alter, einen Handstand lernen.
Kannst du das Handstandtraining empfehlen?
Unbedingt! Man lernt viel über sich selbst und seinen Körper, weil man in jeden Teil des Körpers reinfühlen können muss, um falsch zu balancieren. Man muss fühlen, wo sich die Hände und Ellbogen befinden, in welchem Winkel die Schultern gebeugt sind, wo die Hüfte ist und was dann schlussendlich auch die Beine machen. Man muss voll in den eigenen Körper reinfühlen und allein das ist super wertvoll.
Siehst du das Handstandtraining wie eine Art sportliche Meditation?
Auf jeden Fall. Es gibt unheimlich viele Gründe, warum Leute Handstände machen, aber dieses aktive Körperwahrnehmen und im Jetzt sein macht es dann schon zu einer Art Achtsamkeitstraining. Wenn man mit dem Kopf wo anders ist, funktioniert es nicht.
Wie oft sollte ein Anfänger Trainieren und wann kann man wirklich von sich aussagen, dass man einen Handstand kann?
Regelmäßigkeit ist key! Am Anfang sind drei-, vier-, fünfmal pro Woche empfehlenswert, wenn man eine gute und schnelle Verbesserung will. Grundsätzlich braucht es ca. 1 Jahr, bis man den Handstand wirklich kann. Ab diesem Zeitpunkt fängt man an, unterschiedliche Formen auszuprobieren und seine Beine zu bewegen. Fortgeschrittene trainieren jeden Tag, mehrere Stunden lang. Es macht nach einer Zeit einfach auch süchtig.
Das heißt, Handstandtraining könnte jeden ansprechen und ist für jeden da.
Genau! Die Community ist vor allem facettenreich, weil es so viele verschiedene Menschen anzieht – eher analytische Leute, die für sich selbst trainieren, superkreative Leute, die sich durch Handstand ausdrücken, sehr soziale Menschen, die vor allem gerne mit anderen trainieren und natürlich die, die am Ende damit auftreten wollen. Warum man sich in das Handstandtraining verliebt, ist sehr individuell, und kann aus den unterschiedlichsten Gründen passieren. Wenn man aber einmal die ersten Sekunden in Balance erlebt hat, gibt es oft kein Zurück. Das Gute am Handstandtraining ist, dass es wirklich nicht viel dazu braucht, lediglich eine freie Wand und einen ebenen Boden. Ansonsten braucht es noch ordentlich Motivation, um lang genug dranzubleiben, bis die ersten Erfolge eintreten.
Wenn man das Wort „Handstand“ hört, denken die meisten einfach nur, salopp gesagt, an „verkehrt herumstehen“. In welchen Sportarten findet man den Handstand und seine Variationen?
Das ist schwierig fest zu machen. Es gibt weltweit unheimlich viele Disziplinen, die den Handstand beinhalten. Zum Beispiel im Zirkus, wo der Handstand als eigene Disziplin drinnen ist, oder beim Crossfit, bei dem Handstandgehen dabei ist. In Gymnastik ist Handstand sehr wichtig. Tänzer und Tänzerinnen brauchen ihn auch, meistens als Übergangselement. Im Capoeira ist er auch ein wichtiger Teil. Es gibt den Handstand echt überall, aber oft ist es nur ein kleiner Teil von einer größeren Disziplin.
Also gilt Handstand nicht als eigene Disziplin?
Doch, im Zirkus ist der Handstand definitiv eine eigene Disziplin, aber es zieht nun auch immer mehr Leute an, die gar nichts mit Zirkus am Hut haben. Das hat auch damit zu tun, dass im Rahmen der sogenannten Movement Culture, der Handstand beworben wurde und immer mehr Leute aus dem Mainstream Fitness plötzlich Handstand und Spagat lernen wollten. Mit der Zeit hat sich daraus dann die Handstand-Szene gebildet, die sich aber natürlich viel am Zirkus orientiert. Es entwickelt sich mehr und mehr dazu, dass Handstand eine eigene alleinstehende Disziplin und ein eigenes Hobby wird. So ist es uns, sowohl wegen der vielen Disziplinen, die Handstand beinhalten, als auch dieser neuen Handstand-Bewegung möglich, ein Print-Magazin zu dem Thema herauszugeben.
Wie bist du auf die Idee gekommen, das weltweit erste Handstand Magazin ins Leben zu rufen?
Ich habe im Rahmen meiner Firma Motion Impulse seit 2014 im Bereich Darstellende und Bewegende Kunst als auch im Bereich Fitness immer wieder mit vielen Lehrern zu tun gehabt, die sehr gut Handstand unterrichten können. Mit denen habe ich oft Workshops unterrichtet und dabei geholfen, diese zu organisieren. Mit meiner Onlineplattform Handstand Factory habe ich mich sehr auf zwei Lehrer spezialisiert. Emmet Louis, meinen Lebenspartner, und Mikael Kristiansen, mit denen wir die Handstandprogramme filmen. Dadurch war ich sehr an diese zwei Lehrer gebunden, habe aber gemerkt, dass es so viele spannende Handstandlehrer und Leute auf der Welt gibt, die auch wirklich Interesse daran haben, etwas zu sagen oder ihr eigenes Handstandtraining teilen wollen. Daraufhin wollte ich ein Outlet innerhalb meines Verlagshauses schaffen, das nicht an einen bestimmten Stil gebunden ist wie man Handstand lernen und unterrichten kann.
Das heißt, du wolltest allen die Chance geben, gehört zu werden?
Genau! Ich wollte eine Plattform bieten, auf der alle möglichen Leute Platz finden ihre Meinung zu äußern. Von ihren verschiedenen Herangehensweisen, wie sie entweder selbst Handstand lernen oder unterrichten, bis hin zu ihren Erfahrungen und ihren Schwierigkeiten, die es gibt, wenn man Handstand lernen will. Das war mein Hauptgedanke dahinter, ein Magazin herauszubringen, das generell über Handstand ist. Wichtig war mir, dass darin alle Disziplinen Platz finden und dass Handstand aus verschiedenen Sichtweisen aufgezeigt und gesehen werden kann.
Ich wollte schon immer ein Print-Magazin herausgeben und da hat diese Idee perfekt für mich gepasst. Vor anderthalb Jahren habe ich daraufhin das Postgraduiertenzertifikat für „Creative and Cultural Entrepreneurship“ am Trinity College hier in Irland gemacht und im Zuge dessen die Zeit gehabt mir zu überlegen, wie so ein Magazin denn aussehen soll und ob meine Firma Motion Impulse dieses Projekt tragen kann. Wir wussten von vornherein, dass es nichts ist, womit wir unbedingt Geld verdienen wollen. Unser Ziel war es, dass sich das Magazin bei Ausgabe 03 oder 04 selbst trägt.
Was war eure Version hinter dem Magazin?
Mit dem Handstand-Magazin wollten mein Team und ich genau die Entwicklung des Handstandes zu einem eigenen alleinstehenden Hobby aufgreifen und die Handstand-Szene noch weiter voranbringen. Wir wollen vor allem die Community ansprechen, die sich nur um den Handstand herum entwickelt. Es gibt so viele verschiedene Facetten des Handstandtrainings und Arten von Leuten, die es machen, dass wir uns gedacht haben, dass es auf Papier gebracht ein unglaublich spannender Einblick wäre. Besonders für Leute, die im Internet bei sich zu Hause trainieren und eine Community suchen. Gerade in der Pandemie haben sehr viele Leute mit dem Handstandtraining begonnen, weil man dafür, wie gesagt, nicht viel Platz und kein Equipment braucht und viele gezwungenermaßen viel Zeit hatten.
Hat es dich nicht etwas abgeschreckt, dass das Magazin nur so eine kleine Nische anspricht?
Nein, weil ich das Potential dieser Nische gesehen habe! Es gibt zwar andere Zirkus-Magazine und viel über das Jonglieren, allerdings gibt es die meisten davon nicht mehr, weil die Nachfrage nach Print in den letzten zehn Jahren immens abgenommen hat. Ich habe aber die Hoffnung, dass es ein Revival geben wird in Richtung mehr haptischer Gegenstände und nicht alles online ist. In diesem Rahmen habe ich mich mit mehreren Freundinnen in Verbindung gesetzt, die auch im gleichen Bereich arbeiten. Unter anderem Sonja von Handstand Diary, die eine Art Online Videojournalismus macht und verschiedene Handstandlehrer interviewt hat. Wir haben dann gemeinsam unsere Grafikdesignerin sowie unsere Social Media Managerin gefunden, die ebenfalls beide Handstand machen. Ich habe versucht ein Team zu finden, das sowohl Handstand als Hobby oder als Beruf hat und gleichzeitig gut in Grafik-Design, Interviews führen und Social Media Management ist. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich das allein machen kann, aber mit diesem Team von Frauen kriegen wir das hin!
Wer steht hinter dem Magazin?
Wir haben mich und dann noch drei Leute, die bezahlt werden. Zum Team gehören Sonja Smith-Novak, unsere Redakteurin, Katie McKenney, unsere Layout-Designerin und Emma Dybenko, die für unser Social Media zuständig ist. Wir leben alle in verschiedenen Teilen der Welt. Sonja in Österreich, Emma in Kanada, Katie in den USA und ich in Irland. Unsere Druckerei befindet sich allerdings in Deutschland.
Worum geht es in der ersten Ausgabe 01 „Common Ground“ , die Ende Juni herausgegeben wurde?
Die erste Ausgabe „Common Ground“ soll allgemein einen Einblick rund um das Überthema Handstand bieten und einen tieferen Einblick in die Weite der Handbalance-Gemeinschaft gewähren. Handstände sind ein Element in verschiedenen Sportarten und Disziplinen, die den Einstieg für viele Athleten, Lehrer und Bewegungskünstler darstellen, die dann süchtig werden und die große Bandbreite der Möglichkeiten des Handstandtrainings entdecken. Handbalance wird dann oft zu ihrer Hauptdisziplin, was uns wieder zu dem bringt, warum wir dieses Magazin überhaupt ins Leben gerufen haben.
Das Hauptthema in Ausgabe 01 stellt Athleten mit unterschiedlichen Hintergründen vor. So erfahren Leser:innen den Unterschied zwischen verschiedenen Handstandtechniken und -ansätzen und lernen die Geschichten dieser Athleten, Lehrer und Beweger kennen. Außerdem handelt es von verschiedenen Arten des Handstandes und zeigt auf, was sie alle gemeinsam haben.
Laut eurer Webseite steht der Launch von Issue 02 „Community“ auch bald bevor. Wann kommt die zweite Ausgabe heraus?
Die zweite Ausgabe wird im Dezember herauskommen. Wir bringen das Magazin immer halbjährig heraus – einmal im Sommer und einmal im Winter.
Während in Ausgabe 01 der Handstand in verschiedenen Bewegungsdisziplinen vorgestellt wurde, zeigt diese zweite Ausgabe, wie wir alle durch Handstand interagieren, unabhängig von unserem Hintergrund. Obwohl die Natur des Handstandes zutiefst introspektiv ist, schafft die Anziehungskraft, die Übung in der Einsamkeit zu genießen, und das Bedürfnis, sich mit Gleichgesinnten zu verbinden, ein interessantes Tauziehen.
In vielen Fällen beeinflusst der Versuch, beide Impulse unter einen Hut zu bringen, nicht nur die Art und Weise, wie jemand die Disziplin ausübt, sondern auch, wie er sein Leben gestaltet. Natürlich ist die Erfahrung einer Person in der Handbalancegemeinschaft sehr individuell, aber basierend auf unseren Erfahrungen, unseren Gesprächen mit unzähligen Menschen und den Einsendungen, die wir für diese Ausgabe erhalten haben, kann das Handstandtraining zu menschlichen Interaktionen führen. Diese Verbindungen können einen tiefen und langanhaltenden Einfluss auf das Leben eines Handbalancers haben.
Worauf wollt ihr euch im Issue 02 fokussieren?
Der Fokus dieser Ausgabe ist Community. Über die Handstandgemeinschaft als Ganzes zu sprechen bedeutet, darüber zu sprechen, was Gemeinschaft für jeden Einzelnen bedeutet, und über die Menschen, die sie auf ihrem Streben nach Gleichgewicht getroffen haben. Gemeinschaft bedeutet hier: All die Menschen, die du triffst, wenn du deine Leidenschaft für den Handstand teilen willst. Wer sind die Menschen, mit denen du dich austobst? Mit wem sprichst du über die Schwierigkeiten in der Praxis? Wer ist da, um deine Erfolge zu feiern? Diese anderen Balancierer können aus allen möglichen Bereichen der Bewegung kommen. Sie haben vielleicht eine andere Herangehensweise an die Technik oder leben auf der anderen Seite des Globus. Wie auch immer, wenn du dich mit ihnen durch die Praxis des Handstandes verbindest, dann nennen wir das deine Gemeinschaft.
Wir wollen auch zeigen, wer die Handbalancierer auf der Welt sind, wie sie trainieren und wie deren Umstände sind. Das wird, glaube ich, sehr spannend zu sehen, wie sich Menschen einfach treffen, um auf ihren Händen zu stehen.
Mehr zu Elise:
Die dreißigjährige Elise Missall ist in Hamburg aufgewachsen und in Folge ihres Studiums in Kulturwissenschaften 2013 nach Dublin für ein neunmonatiges Auslandssemester gezogen. Nach der entdeckten Liebe zur Jonglage, dem Zirkus und dem Handstand, entschloss sie sich mit ihrem irischen Lebenspartner in Dublin zu bleiben. Derzeit betreibt sie mit ihrem Partner eine Online Handstand-, Zirkus-, Beweglichkeitstrainingskurse namens „Handstand Factory“, sowie das multimediale Verlagshaus „Motion Impulse“, das in verschiedensten Medien Unterrichtsmaterialien, sowohl in der darstellenden Kunst (Zirkus), als auch für den Gesundheits- und Fitnessbereich, produziert.