„Corona führt vor Augen, wie stark diese Gesellschaft gespalten ist“

Susanne Glass leitet seit fünf Jahren das ARD-Studio in Tel Aviv und berichtet über Israel und die Palästinensergebiete. Zuvor war sie Korrespondentin für Österreich und Südosteuropa und hat in Wien immer noch einen Zweitwohnsitz. Im Interview mit Roderick Martin spricht Glass darüber, wie sie die Corona-Pandemie im Ausland erlebt und warum sich Israel schnell wie eine Insel anfühlt. Sie berichtet zudem, dass die Krise tiefe Gräben in die israelische Gesellschaft gerissen hat und dass ausgerechnet im Corona-Jahr die Lösung im Nahost-Konflikt neuen Schwung bekam – auch dank Donald Trump.

In Krisenzeiten ist es angenehmer, in einem Umfeld zu sein, wo man Freunde und Familie hat, wo auch die staatlichen Abläufe vertraut sind. Das gibt vielen Menschen Sicherheit. Sie sind aus Deutschland, erleben die Corona-Pandemie jedoch in Israel. Wie fühlt es sich in einem fremden Land an?

Ich habe tatsächlich in diesem Jahr wieder verstärkt gemerkt, dass ich Europäerin bin. Natürlich liebe ich es, in Israel zu leben, aber für mich war es schon wichtig, dass die Möglichkeit besteht, mit einem Flugzeug nach Europa zu fliegen. Ich bin aus Deutschland und habe lange Zeit in Österreich gelebt, wo ich noch eine Wohnung habe. Jetzt war es sehr schwierig festzustellen, dass Israel ein sehr kleines Land ist und wenn dann der Flughafen geschlossen ist, fühlt es sich an wie eine Insel – denn mit dem Auto kommst du in Israel nicht weit. Hier stößt du sehr schnell an die Grenzen von Feindesländern, das ist in Europa anders.

Wie gut fühlen Sie sich aufgehoben, was die gesundheitliche Komponente betrifft?

Ich frage mich schon, wie ich als Ausländerin behandelt werden würde, wenn ich ins Krankenhaus komme und auf ein Intensivbett angewiesen wäre. Ich hoffe, sehr gut. Vor allem, wenn man bereit ist, das privat zu bezahlen. Natürlich wünsche ich mir das nicht, denn es gibt zudem noch das Problem mit der Sprache: Ich spreche zwar auf Kindergartenniveau Hebräisch und verstehe es einigermaßen, aber in so einer Situation wäre es noch einmal etwas anderes. Ich weiß aber auf der anderen Seite auch, dass die Gesundheitsversorgung in Israel sehr gut ist. Deshalb mache ich mir keine allzu großen Sorgen.

Konnten Sie im letzten Jahr nach Deutschland oder nach Österreich reisen, wo ihr Mann lebt?

Ich saß tatsächlich am vierten März in einem Flugzeug nach Wien. Als ich rausgeflogen bin aus Tel Aviv, wusste man von nichts, aber in Wien angekommen hieß es, Israel mache seine Grenzen dicht. Jeder müsse dann zuerst in Quarantäne und Ausländer kämen sowieso nicht rein. Somit war ich eines der ersten Opfer der israelischen Corona-Politik. Im übrigen waren ich und mein Mann am Weg nach Panama, wo uns dann die Corona-Pandemie ereilt hat. Wir kamen dann abenteuerlichst über Kolumbien nach Wien zurück, aber nach Israel ging dann für zweieinhalb Monate gar nichts mehr.

In Israel zu arbeiten ist immer sehr herausfordernd. Hohe Sicherheitsvorkehrungen und Checkpoints innerhalb des Landes gehören zum Alltag. Jetzt kommt eine Pandemie dazu. Wie sehr sind Sie in Ihrer Arbeit eingeschränkt?

Ach, das ist momentan schon traurig. Gerade als Auslandskorrespondentin willst du reisen und mit den Leuten reden. Vorneweg: Wir als Journalistinnen und Journalisten dürfen uns frei bewegen, auch wenn es Lockdowns gibt. Aber das bedeutet ja nicht, dass unsere Interviewpartner das können. Die Westbank ist immer wieder abgeriegelt. Vor kurzem drehte ich zum Beispiel in Bethlehem. Dort fand das erste Weihnachten ohne Pilger seit den Kreuzfahrerzeiten statt. Nun haben die Behörden für die Nächte und die Wochenenden Ausgangssperren verhängt. Nach Gaza kam ich seit Pandemie-Beginn überhaupt nicht mehr, denn da müssten wir drei Wochen in Quarantäne. Im Studio selbst haben wir auf einen Zweischicht-Betrieb umgestellt und kamen bis auf eine Ausnahme sehr glimpflich davon. Ein Tonassistent war auf Heimaturlaub in Argentinien und musste nach der Rückreise in Heimquarantäne, wo er dann Corona bekam.

Zur Geburtskirche nach Bethlehem kamen 2020 keine Pilger. Foto: Roderick Martin/Archiv

Israel ist ein hoch entwickeltes Land mit einer guten Gesundheitsversorgung. In den Palästinensergebieten schaut das ganz anders aus. Wie ist die Situation dort?

Da muss man unterscheiden zwischen der Westbank, wo die Fatah regiert und Gaza wo die Hamas herrscht. Gaza wurde tatsächlich in Grund und Boden gewirtschaftet. Da ist auch die israelische Blockadepolitik Mitschuld, die kaum Medikamente oder medizinische Geräte hineinlässt. In Gaza schaut es düster aus und ich würde mich auf keine veröffentlichten Zahlen verlassen. Noch dazu gibt es kaum Tests. Die Hamas traut sich auch keinen Lockdown zu verhängen, obwohl der in Gaza dringend nötig wäre. Die Angst ist so groß, dass der Lockdown die letzte wirtschaftliche Grundlage der Menschen zerstört und diese dann an Hunger, statt an Corona sterben. In der Westbank sieht es ein bisschen besser aus und die Patienten, die intensivmedizinische Betreuung brauchen, werden nach Israel gebracht.

Das Siedlungsgebiet der Palästinenser ist seit 2007 de facto zweigeteilt. Im Westjordanland, auch Westbank genannt, leben 2,8 Millionen Menschen. Hier regiert die Fatah unter Palästinenserpräsident Abbas. Im Gazastreifen herrsch dagegen die islamistische Hamas, die von der EU als Terrororganisation eingestuft wird. Hier leben auf nur 360 km² 1,9 Millionen Palästinenser.

Viele Menschen aus der Westbank fahren nach Israel, um zu arbeiten oder weil sie dort Familie haben. Sind die Übergänge denn offen?

Die sind derzeit offen. Das kann sich aber bei jedem Zwischenfall ändern und hat gar nichts mit Corona zu tun. Dann müssen halt die palästinensischen Arbeiter, die nachts um zwei aufstehen, damit sie um sechs in Jerusalem oder Tel Aviv bei der Arbeit ankommen, an den Übergängen warten.

Israel ist zu Beginn sehr glimpflich durch diese Pandemie gekommen. Im Spätsommer stiegen dann die Zahlen rapide an und zu Spitzenzeiten im September gab es über 9.000 tägliche Neuinfektionen. Worauf ist das zurück zu führen?

Israel ist gut vergleichbar mit Österreich von der Bevölkerung. Beide Länder haben etwa neun Millionen Einwohner. Israel hat im Frühjahr schnell alles dicht gemacht und stand so nach dem Lockdown wieder gut da. Allerdings machte die Regierung dann den Fehler, das Land wieder zu schnell zu öffnen. Premierminister Benjamin Netanjahu hat auch den Leuten geraten, raus zu gehen, sich zu vergnügen und ein Bier zu trinken. Die Infektionszahlen stiegen dann so rasant an, so schnell konnte man gar nicht schauen. Das war gruselig. Tel Aviv, das als Partystadt und Mittelmeermetropole gilt, stand dabei überraschenderweise gut da. Die Höchstwerte gab es in den ultraorthodoxen und den arabischen Gemeinden. Es sind auch skandalöse Videos von Massenhochzeiten aufgetaucht, wo hunderte Menschen zusammen feierten, ohne Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten oder Masken zu tragen. Die Mehrheit in Israel muss dafür büßen, dass eine kleine Gruppe die Regeln ignoriert. Das führt zu Spannungen.

Die Entwicklung der Corona-Pandemie in Israel im Vergleich zu Österreich.

Sie haben bereits die ultraorthodoxe Bevölkerung angesprochen, die staatliche Vorgaben und Regeln nur ungern akzeptiert. Nun heißt es, sie wären für die zweite Corona-Welle verantwortlich gewesen. Führt das Verhalten dieser Gruppen auch zu einer Polarisierung innerhalb der israelischen Gesellschaft?

Tatsächlich führt Corona den Israelis vor Augen, wie stark die Gesellschaft in Säkulare und Ultraorthodoxe gespalten ist. Wir rezipieren im Ausland häufig immer nur den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Aber wie extrem divers die israelische Gesellschaft ist, ist vielen nicht bewusst. Bis jetzt hatten die Säkularen immer die Einstellung: „Leben und leben lassen“. Damit war gemeint, dass auch die Ultraorthodoxen ihren Platz im jüdischen Staat haben sollen. Dadurch, dass diese aber nur auf ihre Rabbis hören, die noch dazu zum gemeinsamen Beten in die Synagoge und Hochzeiten feiern aufrufen, reicht es nun den Säkularen. Ich habe Freundinnen die sagen, sie hassen die Ultraorthodoxen, denn sie seien der Grund, warum wir Corona-Risikogebiet sind und nicht reisen dürfen. 

Gibt es da politische Konsequenzen für die ultraorthodoxe Gemeinde?

Wie soll es denn Konsequenzen geben, wenn Premierminister Benjamin Netanjahu, der massiv ums politische Überleben kämpft, in seiner Koalition auf die Orthodoxen angewiesen ist? Ohne Sie schafft er keine Regierungsmehrheit mehr. Die treiben ihn vor sich her. 

Tatsächlich steht die Regierung von Benjamin Netanjahu sehr unter Druck, wie einige Umfragen zeigen. Laut Israel Democracy Institute glauben 55 Prozent, dass der Lockdown politisch motiviert war. Auch die Vertrauenswerte in Premierminister Netanjahu haben sich im Vergleich zum Frühjahr halbiert und liegen nur mehr bei 31 Prozent. Woher kommt dieses tiefe Misstrauen in die Politik?

Das Corona-Management der Regierung war tatsächlich sehr schlecht und ohne Plan. Es gab an einem Tag Ankündigungen, die am nächsten Tag wieder zurückgenommen wurden, beispielsweise über Schließungen von Restaurants oder Stränden. Dann haben die Restaurantbesitzer und andere Gruppen rebelliert und die Maßnahmen wurden wieder zurückgenommen. Es gab einfach keinen richtigen Kurs. Parallel dazu ging die Arbeitslosigkeit durch die Decke. Vor dem ersten Lockdown gab es hier drei bis vier Prozent Arbeitslose und plötzlich hatten 25 Prozent der Israelis keinen Job mehr. Ich kenne viele junge Menschen, die ihren Job verloren haben und zu ihren Eltern zurückziehen mussten. Die stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Das hat Netanjahu sehr geschadet. Sein Image als starker Mann, der auch die Wirtschaft zusammenhält, hat dadurch gelitten.

In der internationalen Berichterstattung hörte man in diesem Jahr abseits von Corona wenig aus Israel – mit einer großen Ausnahme: Die Entspannungspolitik mit einigen arabischen Staaten. Die ziemlich besten Freunde Donald Trump und Benjamin Netanjahu feierten dies auch als persönlichen Erfolg. Was können wir nach dem Wechsel im Weißen Haus nun erwarten?

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Kommentar unter dem Titel „Trump sei Dank“ schreibe. Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber man muss auch anerkennen, wenn er etwas geleistet hat. Donald Trump schaffte tatsächlich eine Entspannungspolitik zwischen Israel mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und dem Sudan. Die Normalisierungs-Abkommen, die Trump vermittelt hat, waren vor allem getrieben von Geschäftsinteressen. Gerade, was die Emirate betrifft und was Saudi-Arabien beträfe, mit dem Israel sehr gerne ein Normalisierungs-Abkommen hätte. Da erhofft man sich Milliardengewinne. Aber das ist nicht schlimm, denn alles, was eine Entspannung in der Region bedeutet, ist von Vorteil.

Und sehr zum Nachteil der Palästinenser…

Was die Palästinenserfrage betrifft, sind wir tatsächlich nicht mehr weitergekommen. Ich bin seit fünf Jahren hier und werde ständig gefragt, wie es aussieht mit einer Zwei-Staaten-Lösung. Da musste ich immer sagen, dass nichts weitergeht und es keine Hoffnung gibt in diesem eingefrorenen Konflikt. Jetzt sehe ich, dass von einer anderen Seite Bewegung reinkommt und da finde ich es nun wichtig, dass wir mit Joe Biden einen neuen Mann im Weißen Haus haben. Er als ehemaliger Stellvertreter von Barack Obama kann auch die Palästinenser ins Boot holen, nachdem unter Trump alle Kontakte abgerissen waren. Sein neuer Außenminister ist zudem jüdischer Abstammung und auch der Ehemann von Vizepräsidentin Kamala Harris ist Jude. Diese Normalisierung mit arabischen Staaten, plus die Kombination, dass die Palästinenser mit Biden wieder reden wollen, halte ich für einen großen Hoffnungsschimmer für diese Region. Das ist eigentlich eine großartige Geschichte und kommt momentan zu kurz.

Von Großartigem zurück zu den kleinen Dingen des Lebens: Wie schaffen Sie es derzeit, von all dem Trubel abzuschalten und in ihre Komfortzone zurückzukommen?

Im Juni und Juli, als ich dann nach dieser Odyssee und einer zweiwöchigen Quarantäne wieder zurück in Israel war, hatte ich eine sehr schwere Phase. Da ging es mir auch persönlich sehr schlecht mit der Situation. Dann entschied ich, dass es nicht besser wird, wenn ich nur Trübsal blase. Ich habe jetzt angefangen, neben Hebräisch, auch Arabisch zu lernen. Ich merke auch, dass ich viel mehr für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter da sein muss, weil auch da einiges abgeglitten ist. Es ist eine schwierige Zeit für uns alle. Aber ich bin privilegiert, kann arbeiten und stehe nicht vor der Existenzfrage, wie so manche Israelis. Deshalb erlaube ich es mir nicht, zu sehr zu jammern.

Weiteführende Links:

ARD-Weltspiegel: Wer profitiert bei der Annäherungspolitik?

Trump sei Dank | Die FURCHE

Corona Virus in Israel: Health Ministry

Die Geschichte Palästinas

Coronaberichterstattung – eine kritische Reflexion

Corinna Milborn (u.a. Puls24) und Michael Matzenberger (der Standard) ziehen eine Zwischen-Bilanz nach neun Monaten Pandemie-Berichterstattung.

Corona beherrscht die Berichterstattung – Liveberichte und Pushbenachrichtigungen im Zusammenhang mit der Pandemie und ihren Folgen begleiten uns durch den Alltag. Wie wurde mit dieser außergewöhnlichen Situation bisher umgegangen? Wo gibt es vielleicht Verbesserungsbedarf? Dazu im Gespräch: Corinna Milborn (Infochefin des Privatsenders Puls24, Moderatorin und Autorin) und Michael Matzenberger (Datenjournalist und Chef vom Dienst bei der Tageszeitung Der Standard).

Das Gespräch könnt ihr hier anhören:

Emilia Garbsch, Emil Biller

„Vom Allerletzten zu einer wichtigen Säule des Staates“

Spätestens seit der Corona-Pandemie sollte jedem Menschen bewusst sein, welche Relevanz eine gut laufende Lebensmittelversorgung für den gesamten Staat hat. Der einfache Verkaufsmitarbeiter bzw. die einfache Verkaufsmitarbeiterin ist also mitunter dafür verantwortlich, dass das System und der Staat nicht zusammenbrechen, während einer der größten Krisen der jüngeren Geschichte. Für die Menschen, die im Verkauf arbeiten, waren die letzten Monate aber alles andere als einfach. Der Filialleiter eines Supermarktes in Wien Hernals spricht über das Geschehen und das Geschehene seit der Corona-Pandemie. *

Wie hat sich Ihr Beruf seit Corona und dem ersten Lockdown verändert?

Es hat sich sehr verändert. Um nicht zu sagen, gewaltig. Es ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Vor allem, wenn ich zurückblicke auf den Anfang des Jahres, beim ersten Shutdown, bei der Schließung aller Geschäfte. Da gab es eine noch nie da gewesen Situation. Diese Situation war natürlich für alle Menschen etwas Neues und zutiefst eigenartig. Aber wir haben es im Einzelhandel eben besonders stark gemerkt und waren ja mitunter die Branche, die am meisten von Veränderungen im Alltag betroffen war. Dieser eine Dienstag an dem die Hamsterkäufe stattfanden. So etwas habe ich in 20 Jahren noch nicht gesehen. Wir haben das Vierfache (!) an geplantem Umsatz gemacht. Unsere Regale sind ja in der Regel prall gefüllt mit Produkten. An dem Tag war, aber alles anders als sonst. Wir haben uns plötzlich gegenseitig zwischen den Regalen sehen können, weil alles leer war (lacht). Und wenn ich sage leer, dann meine ich auch wirklich komplett leer. Wir hatten praktisch nichts mehr im Geschäft – es war alles weg. Das war schon auch zum Teil beängstigend, wenn man sieht, welche Dynamik das Ganze entwickelt. Diese Bilder habe ich, aber natürlich auch meine Mitarbeiter noch immer vor Augen und es lässt uns auch nie ganz los. Das war eines dieser prägenden Ereignisse, an die man sich den Rest seines Lebens erinnert.

Die leeren Regale vor dem ersten Lockdown   Foto: Unbekannt

Herrscht mittlerweile eine andere Alltagsdynamik in Ihrem Geschäft?

Naja, der Alltag hat sich natürlich komplett abgewandelt. Das Tragen der Maske, der Mindestabstand zwischen Kunden aber auch zwischen Mitarbeitern, das explizite Desinfizieren von gewissen Gegenständen etc. Der Unterschied zwischen dem ersten Lockdown im März und dem zweiten Lockdown vergangene Woche ist aber immens. Die Leute dürften jetzt mittlerweile verstanden haben, dass sie nicht alles leer räumen müssen, um zu überleben. Die Supermärkte haben trotzdem offen. Es ist nicht notwendig, sich um das letzte Stück Klopapier zu streiten. Man muss keine Angst haben, dass es ab morgen keine Nudeln oder Reis oder andere Produkte gibt. Ich glaube, dass die Menschen sich dieser Tatsache schon bewusst geworden sind und keine Angst mehr verspüren.

Abgesehen von den Hamstereinkäufen, die ja noch immer teilweise vorkommen in den Geschäften, wie ist das derzeitige Konsumverhalten Ihrer Kunden*innen?

Die Menschen kaufen bestimmte Warengruppen vermehrt. Vor allem eingelegte Sachen verkaufen wir mittlerweile um ein Vielfaches mehr als davor. Konserven im Allgemeinen sind außerordentlich beliebt. Von denen haben wir vor Corona normalerweise zu viel als zu wenig gehabt, jetzt ist es aber genau umgekehrt. Bei Nudeln oder Reis sehen wir auch, dass nicht mehr die normalen Packungsgrößen gekauft werden, sondern die XXL-Größen oder eben die Familienpackungen. Die Menschen wollen jetzt halt immer notfalls etwas zu Hause haben. Sicher ist sicher.

Also haben die Menschen doch Angst, dass sie eines Tages nicht mehr in die Supermärkte gehen dürfen?

Ein wenig Angst vielleicht, ja, aber im Vergleich zum ersten Lockdown sind das ja nicht einmal Peanuts. Die Menschen kaufen halt, um die Angst in ihren Köpfen ein wenig zu beruhigen oder eben auch um ihr Gewissen einfach zu beruhigen. Mit dem Gedanken, dass man zuhause eh etwas auf Reserve hat, schläft es sich nachts besser. Aber natürlich, so wie uns die Bilder der leeren Regale nicht mehr aus dem Kopf gehen, so geht es auch den Kunden. Und das wird auch lange so bleiben, dass die Kunden immer mit ein wenig, – Angst ist vielleicht das falsche Wort, – aber zumindest mit einer gewissen Vorbelastung einkaufen gehen.

Sie hatten nicht das Privileg, auf Homeoffice umzusteigen. Sie waren diejenigen die stets vor Ort arbeiteten und sich der ständigen Gefahr einer Infektion aussetzen mussten. Hatten Sie oder Ihre Kollegen*innen eigentlich Angst? 

Um ehrlich zu sein hatten wir gar nicht die Zeit, um zu überlegen, ob wir Angst haben sollten oder nicht. Wir kamen aus dem Arbeiten gar nicht heraus, bis wir uns dann einmal auch die Frage gestellt haben, wie gefährlich das eigentlich auch für unserer Gesundheit ist. Wir sagen bei uns in der Filiale auch immer wieder, dass viele von uns bestimmt schon mal infiziert worden sind, ohne es überhaupt zu merken. Aber ja, was soll man machen, das ist halt Berufsrisiko. Wir können unseren Job eben nicht von zuhause erledigen und sind nun mal dieser Gefahr ausgesetzt. Aber wir könnten unseren Job nicht ausüben, wenn wir ständig Angst hätten, Corona zu bekommen. Dann könnten wir gleich zu sperren. Es ist halt jetzt einfach part oft the job. Angst wäre damals wie heute natürlich gerechtfertigt. Die Möglichkeit oder die Zeit, Angst vor Corona im Einzelhandel zu haben, geht aber einfach nicht, Punkt.

Kam einer von Ihren Mitarbeitern*innen auch auf die Idee, Hamsterkäufe zu tätigen, weil er oder sie Angst hatte, dass die Supermärkte bald schließen?

Nein, auf die Idee kam niemand. Warum auch? Es war von Beginn der Pandemie an klar, dass die lebenserhaltenden Geschäfte nicht zugesperrt werden. Uns wurde das firmenintern auch genau so weitergeleitet. Wir wussten, dass wir ganz normal offen haben werden und es deshalb keine Notwendigkeit gibt, für unsinnige Einkäufe. Nichtsdestotrotz kann ich nur für meine Filiale sprechen. Kann schon gut sein, dass Mitarbeiter in anderen Filialen auch der Meinung waren, dass Hamstereinkäufe notwendig sind. Bei uns war das nicht der Fall, weil es ja schlichtweg unnötig ist.

Wenn man in einen Supermarkt geht, verspürt man in letzter Zeit eine gewisse Spannung. Sei es zwischen Kunden*innen untereinander oder auch zwischen Kunden*innen und Verkäufer*innen. Es wird auch immer öfter von vermehrtem aggressiven Verhalten seitens der Kunden*innen gesprochen. Wie erleben Sie und Ihre Mitarbeiter*innen das?

Ja, da haben Sie vollkommen recht, diese Spannung ist auf jeden Fall zu spüren. Manchmal fühlt es sich so an, als bräuchte es nur einen kleinen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde. Aber es ist schwer in Worte zu fassen. Einerseits fungiert der Supermarkt derzeit auch als eine Art Forum. Menschen treffen sich zufällig hier, die sich schon seit langer Zeit nicht mehr sahen und fangen nette und freundliche Gespräche an. Wildfremde Menschen sprechen auch miteinander, natürlich nur über das eine Thema, aber sie reden miteinander. Der Supermarkt ist also so ein Platz öffentlichen Austausches geworden, da man ja sonst nirgends raus darf. Das bringt aber auch Gefahren. Es gibt einfach Kunden*innen, die zu uns kommen, um ihren Frust auszulassen und den lassen sie entweder an anderen Kunden oder an meinen Mitarbeitern aus. Für meine Mitarbeiter ist die ganze Situation natürlich manchmal sehr schwer. Wir versuchen, unseren Kunden alle Wünsche zu erfüllen. Vor allem, da wir nach dem ersten Lockdown nichts mehr im Geschäft hatten. Da waren wir gewohnt zu sagen „Nein, tut mir leid, haben wir nicht mehr“ oder „Ist leider aus, ich weiß nicht, wann wir das wiederbekommen“. Jetzt wollen wir, dass unsere Kunden wieder alles zur Verfügung gestellt bekommen. Manchmal aber, ist das Beste, für unsere Kunden auch nicht gut genug. Da kann es natürlich schon zu Spannungen und zu einer hitzigen Stimmung kommen. Aber wir bleiben cool und versuchen immer alles möglichst friedlich und durch den Dialog zu lösen.

Bereuen Sie in Zeiten wie diesen manchmal, dass Sie sich für einen Job im Verkauf entschieden haben?

Nein auf keinen Fall. Ich liebe meinen Job, ich liebe die Menschen und ich liebe den Kontakt mit meinen Mitmenschen. Auch, wenn die letzten Monate anders waren als all die Jahre davor bin ich noch immer sehr froh, mich für den Verkauf entschieden zu haben. Ich würde es für keinen anderen Job eintauschen wollen. Ich bin stolz, ein sogenannter System-Erhalter zu sein.

Dass es die Verkäufer*innen in den Supermärkten gerade jetzt nicht sehr einfach haben, ist vielen Menschen bewusst und der Einzelhandel hat deshalb auch viele Solidaritätsbekundungen durch die Gesellschaft erfahren. Erhalten die Supermärkte jetzt die Anerkennung, die sie seit langem verdient haben?

Absolut, in diese Richtung hat sich extrem viel verändert. Das ist ein Thema, über das ich stundenlang reden könnte. Der Verkauf wurde seitdem ich mich erinnern kann immer sehr schlecht dargestellt. Es wurde oft als eine dreckige und undankbare Arbeit für Menschen, die sonst nichts im Leben erreicht haben, dargestellt. Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Leben gehört habe, „Die arbeitet ja nur beim LIDL, Billa etc. bei der Kasse“ oder „Wenn du nichts kannst und Geld brauchst, dann gehst du in den Handel“. Seit Jahren höre ich solche oder ähnliche Dinge von meinen Mitarbeitern und jetzt? Auf einmal bekommen sie von jeder Seite Lob zu gesprochen und werden als die System-Erhalter gepriesen. Vom „Allerletzten“ zu einer wichtigen Säule des Staates. Ich finde es eigentlich sogar sehr traurig und auch etwas scheinheilig, dass etwas so Einschneidendes wie eine Pandemie passieren muss, damit die Menschen aufwachen und bemerken, wer eigentlich dafür sorgt, dass sie jeden Tag etwas zu Hause am Teller haben. Aber seit dieser verspäteten Anerkennung spüren wir die Wertschätzung der Gesellschaft, aber eben auch von unseren Kunde sehr stark. Die ganzen Solidaritätsaktionen haben mich schon sehr berührt, oder auch wenn Kunden uns einfach mal ihren Dank für unsere geleistete Arbeit aussprechen. Es wurde aber auch Zeit dafür!

Diese Anerkennung für den Handel wurde natürlich auch von Seiten der Regierung ausgesprochen. Es gab ja auch bereits den Vorschlag, dass Arbeiter*innen im Einzelhandel eine Geldprämie bekommen sollen. Haben Sie schon etwas davon gesehen oder waren das nur leere Versprechen?

Ja, wir haben etwas bekommen. Es war eine kleine, aber feine Geldprämie, die wir von unserer Firma bekommen haben und das finde ich auch gut. Ich finde auch, dass nicht nur wir eine Prämie erhalten sollten, sondern auch all jene Menschen, die zurzeit im medizinischen Bereich arbeiten. Sie sind die wahren Helden dieser Krise. Sie verdienen dafür auch eine Prämie. Wir dürften laut Arbeitgeber bis Ende des Jahres nochmals einen Zuschuss oder einen Gutschein erhalten, aber es ist uns eigentlich ganz egal. Das ist unser Job, wir machen ihn gerne und freuen uns, dass wir dementsprechend entschädigt werden.

Aber reicht Ihnen das auch? Also, fühlen Sie sich mit ein bisschen Applaus und einer kleinen Prämie genug wertgeschätzt für die harte Arbeit, die Sie in den letzten Monaten verrichtet haben?

Ich bin generell der Meinung, dass Menschen, die im Handel arbeiten viel zu schlecht verdienen. Für die Rolle unserer harten Arbeit in der Gesellschaft sind das in Wahrheit nur Peanuts, die wir bekommen. Aber das ist dann eine Grundsatzfrage. Warum verdient ein Manager, der nichts fürs Allgemeinwohl tut, 5000 Euro im Monat und meine Kassiererin bekommt 1500 Euro. Ich denke, dass diese Anerkennungen, also Prämien, Applaus etc. eigentlich der erste Schritt sein sollten. Also der erste Schritt in Richtung höhere Wertschätzung des Handels. Aber ich bin halt doch „nur“ ein Filialleiter und werde nicht die Anerkennung und die Gehälter einer ganzen Branche verändern können. Ich würde es mir wünschen, dass ich es könnte, aber ich kann es nicht. 

Corona macht natürlich auch nicht vor Ihren Mitarbeitern*innen halt. Gibt es bestimmte Firmenrichtlinien, die eingehalten werden müssen, wenn es einen positiven Fall in Ihrem Team gibt? Wie müssen Sie als Filialverantwortlicher vorgehen?

Ja gibt es, es gibt eine interne Covid-Hotline, ein internes Team und einen internen Covid-Verantwortlichen, die eben nur für Corona-Fälle zuständig sind. Die Vorgehensweise ist sehr strikt von uns einzuhalten.

Wie viele Mitarbeiter*innen könnten Ihnen ausfallen bevor Sie sagen, jetzt funktioniert es nicht mehr, das Geschäft aufrecht zu erhalten?

Das ist eigentlich eine sehr gute Frage, die ich mir so eigentlich noch nie gestellt habe. Es ist so, dass ich in meiner Filiale 20 Mitarbeiter habe und ich für den Start meines Geschäfts in der Früh mindestens sechs Leute brauche, um vernünftig starten zu können. Nachmittags sind es dann nochmal vier, die dann mit der Vormittagsschicht wechseln. Es müssten also mehr als 50% meines Teams ausfallen, damit wir zusperren müssten, beziehungsweise erst gar nicht aufmachen könnten. Aber da gibt es schon Mittel und Wege sich zu helfen. Notfalls machen gesunde Mitarbeiter Überstunden, wenn das nicht geht dann fragen wir in unseren firmeninternen Nachbarfilialen nach, ob sie uns Arbeiter leihen könnten. Wenn selbst das nicht geht, dann muss das Ganze zentralseitig von der Firma übernommen werden und Mitarbeiter aus ganz Wien können zu uns geschickt werden, damit die Aufrechterhaltung des Geschäfts gewährleistet werden kann. Wir hatten Gott sei Dank noch keinen Corona Fall bei uns. In anderen Filialen war das aber schon der Fall, die haben aber deswegen auch nicht gleich zusperren müssen. Also kein Grund zur Sorge!

Welche Lehren wird der Einzelhandel, aber auch Sie ganz persönlich aus dieser Pandemie ziehen?

Dem Einzelhandel sollte die Pandemie auf jeden Fall eine Lehre gewesen sein. Es braucht eine bessere, aber auch eine schnellere Organisation. Die Verteilung von Lebensmitteln und Hygieneartikel muss in so einer Extremsituation ohne Wenn und Aber einfach schneller funktionieren. Es muss eine schnellere Reaktion auf die Nachfrage geben, auch wenn diese durch Hamstereinkäufe exponentiell in die Höhe steigt. Denn man hat gesehen, wer die Leidtragenden sind, wenn die Geschäfte leer sind. Weder die Firma noch die Mitarbeiter, sondern all jene Kunden, die ihren normalen Einkauf machen wollen, aber wegen unerklärlichen Hysterien und einer fehlerhaften oder nicht vorausschauenden Planung der Firma nun vor leeren Regalen stehen. Sie sind die Leidträger in dieser Situation. Das darf so nie wieder vorkommen.

Ich persönlich ziehe auch einige Lehren aus dieser Pandemie. Ich bin noch immer stark beeindruckt von der noch nie da gewesenen Wertschätzung, der Anerkennung und den Reaktionen. Diese Wertschätzung sollte man aber nicht nur den sogenannten System-Erhaltern entgegenbringen, sondern eigentlich jedem Menschen. Und ich bin einmal mehr froh, in Österreich leben zu dürfen, da wir wieder einmal gesehen haben, dass es uns sogar in einer Krise wie dieser, an nichts fehlt. Und ich glaube, dass die Menschen das jetzt mittlerweile auch bemerken und schätzen. Ich hoffe es zumindest.

*Aus Gründen des Datenschutzes wurden weder Name der Supermarktkette noch der des Filialleiters genannt.