Ein Körper – mehrere Personen: Leben mit dissoziativer Identitätsstörung

Den Körper mit mehreren Personen teilen. Das ist die Realität für Menschen, die mit dissoziativer Identitätsstörung (DID) diagnostiziert wurden. Vor über 25 Jahren wurde sie noch als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, ein Begriff, der jetzt veraltet ist. Betroffene haben mehr als eine Identität, die zu verschiedenen Zeiten die Kontrolle des Körpers übernehmen können. Jedes Mitglied eines Systems von Identitäten hat eigene Charaktereigenschaften, Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen.

DID entwickelt sich im Kindesalter, wenn überwältigende oder traumatische Erfahrungen und/oder Missbräuche stattfinden. Der Körper aktiviert eine Art Schutzmechanismus, indem er die Opfer vom Trauma dissoziiert. Betroffene wissen oft nichts über die Existenz anderer, trotz regulärer Amnesie und unerklärbarer Ereignisse. DID kann nicht medikamentös behandelt werden. Therapie ist jedoch sehr hilfreich, um Systeme zu unterstützen und die Kommunikation untereinander zu verbessern.

Dissoziative Identitätsstörung wirkt sich bei jedem anders aus. Rose, ein Mitglied des Stronghold Systems, erklärt wie DID sein kann und das Leben von Mitmenschen beeinflusst.

© The Plural Association

Was ist deine Diagnose und wie wirkt sie sich aus?

Ich habe eine dissoziative Identitätsstörung, was nach DSM-5 zu den dissoziativen Störungen gehört. Keine Persönlichkeitsstörung, was viele Menschen glauben. Für mich bedeutet das, dass ich mein Leben, Körper und Gedanken mit einigen anderen Leuten teile.

Das heißt für uns, dass wir ein paar bestimmte Aufgaben in unserem Leben haben. Zum Beispiel gibt es jemanden, der kocht. Wenn diese Person nicht vorne (= in Kontrolle des Körpers) ist, essen wir nur leicht zubereitbare Mahlzeiten, wie Sandwiches. Wenn jemand anderer versucht zu kochen, können wir die Person blockieren. Vor dem Essen fragen wir sie, ob sie sich wohlfühlt und ob sie es will. Wenn nicht, bleibt es bei Sandwiches.

Das ist ein simples Beispiel wie DID im täglichen Leben aussieht.

Was waren Anzeichen, dass du DID hast vor der Diagnose?

Ein frühes Zeichen war, dass wir nie besonders gute Noten in Englisch hatten, bis zu unserer letzten Prüfung. Wir dachten, dass wir, wegen einer Panikattacke, die Prüfung nicht gemacht und die Schule verlassen haben. Es hat sich aber herausgestellt, dass jemand in unserem System die Prüfung gemacht hat und eine 1+ bekommen hat. Unser Lehrer kam sogar und sagte: „Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Ich habe dich noch nie so Englisch reden gehört.”

Ich dachte mir nur: „Was zum Teufel?” Später haben wir diese Person, die den Test gemacht hat, kennengelernt und von ihm/ihr Englisch gelernt. Jetzt kann es jeder recht gut. Die Person konnte kein Niederländisch, also haben wir es ihm/ihr auch beigebracht. Sie konnte kein niederländisch verstehen, ich bin mir nicht sicher wieso, aber ich nehme an, es war eine Art Schutz, den sie sich aufgebaut hat.

Wie hast du dir selbst und anderen solche Situationen erklärt, bevor du wusstest, was DID ist?

Wir hatten komische Erklärungen wie: „Oh, das ist, wenn ich in Kontakt mit Gott bin. Dann rede ich nur Englisch.” Wir haben Gründe erfunden, weil es einfach absurd war. Ich bin aus den Niederlanden, rede nur Englisch und konnte nicht aufhören. Naja, nicht ich, aber jemand in mir.

Auch andere Leute haben mir erzählt, dass sie mich gesehen haben und ich da nur Englisch geredet habe. Ich dachte mir immer nur: „Oh Gott, nicht das schon wieder.” Ich konnte es nicht abstreiten, weil es so viele gesehen haben und es sogar Videos gab. Deswegen habe ich es mir so erklärt, dass dieser Moment mit Gott so heilig ist, dass ich mich an nichts erinnern kann.

Haben dich solche Momente verängstigt?

Das Beispiel war nicht unbedingt beängstigend, da ich meiner Erklärung mit Gott wirklich geglaubt habe, wodurch ich mich sicher gefühlt habe. Aber es war bereits mein ganzes Leben ein Problem, dass Leute mir sagen, dass ich was bestimmtes gemacht habe, ich konnte mich nie erinnern. Besonders in der Schule war dieser Gedächtnisverlust ein großes Problem und ich habe dadurch viele Schwierigkeiten bekommen. Leute dachten immer ich lüge, aber ich konnte mich einfach nicht erinnern. Jetzt habe ich viele Menschen in meinem Leben, die wissen, was los ist, mich respektieren und sich sicher sind, dass ich sie nicht anlügen würde.

Wie viel Zeit hast du am Stück verloren?

Es fühlte sich an, als ob ich mich für vier Stunden hinlege, dann noch zwei, später noch eine Stunde. Ich wusste nicht, dass ich dabei Zeit verliere. Für mich war das etwas so Normales, ich war mir sicher, dass jeder das erlebt. Ich war verwirrt, wieso es niemand anspricht. Aber ich war davon überzeugt, dass, wenn Leute nach Hause kommen und die Tür hinter sich schließen, das auch machen.

Wie verlief deine Diagnose? Hast du erwartet DID zu haben?

Wir wurden mehrmals diagnostiziert. Das erste Mal, als es jemand in der Therapie angesprochen hat, war 2009. Es hat uns so beängstigt, dass wir sofort gegangen sind. Wir dachten nur: „Nein, das haben wir nicht. Wir sind hier fertig.”.

Zwei Jahre später sind wir zurück zur Therapie gegangen. Wieder wurde uns vorgeschlagen, einen Spezialisten zu kontaktieren. Die Wartezeiten waren lange und wir kamen erst 2012 dran. In der Zwischenzeit haben sich die Diagnosekriterien für DID geändert, man konnte nun einen Selbstbericht machen. Früher musste eine andere Person über auffälliges Verhalten berichten und erklären, was passiert ist.

Während mir der Psychologe das erklärte, sagte ich ihm: „Ok, aber ich mache keinen Selbstbericht. Also warum erklärst du mir das?” Er schaute mich nur an und sagte: „Genau das meine ich. Vor 30 Minuten hast du einen Selbstbericht gemacht.” Ich habe es verneint, aber er sagte: „Doch. Aber du kannst dich nicht erinnern, weil jemand anderer hier war.”

Wir haben öfter Identitäten getauscht in dieser Konversation. Es war sehr surreal und wir haben anfangs mit sehr viel Verweigerung kämpfen müssen.

Das Stronghold System hatte viele Schwierigkeiten, Therapie zu finden nach der Diagnose. Lange Wartelisten, Komplikationen mit Versicherungen und weite Distanzen für Hilfe waren ein paar davon.

Als System haben wir realisiert, dass wir es nicht schaffen würden, sechs weitere Jahre auf eine Therapie zu warten – wir mussten etwas unternehmen. Und so haben wir ein Selbststudium über DID gestartet. Zuerst haben wir nur auf niederländisch recherchiert, was furchtbar war, weil die Informationen so limitiert und deprimierend waren. Wir haben Angst vor uns selbst bekommen, was davor nicht der Fall war.

Später haben wir dann realisiert, dass wir genauso auf Englisch recherchieren können und dass es über alle Themen mehr Inhalte gibt, nicht nur über DID. Eine neue Welt hat sich uns geöffnet, weil wir Leute gefunden haben, die positiver über die Störung geredet haben. Nicht unbedingt, dass es was Gutes ist, aber mehr in die Richtung: „Hey. Alles wird gut und es ist OK so zu sein.” Es war so wichtig für uns, ich habe mich zu der Zeit so ausgeschlossen gefühlt.

Anfangs war dir die Existenz anderer nicht bewusst, wie hast du sie kennengelernt?

Am Anfang dachten wir, dass wir zwölf Headmates (= Bezeichnung der anderen Personen vom Stronghold System) haben, die wir durch einen Prozess namens Mapping gefunden haben. Beim Mapping zeichnet man eine Art Karte, wo sich alle Headmates in unserer inneren Welt befinden. Aber wir konnten nicht mit allen reden, vielleicht mit drei oder vier war das Kommunizieren im Kopf möglich.

Der Rest hat auf Papier geschrieben, wir haben gemeinsam eine Art Tagebuch geführt. Dann hat aber jemand im System das Tagebuch gelesen, war wütend und hat alles zerrissen und weggeschmissen. Ich denke, sie hatten Angst und wollten diese Realität nicht wahrhaben. Wir mussten unsere Tagebücher öfter neustarten.

Wie hast du es geschafft mit ihnen zu kommunizieren?

Miteinander im Kopf reden ist keine Magie, es ist vergleichbar mit Sport. Ich mag es nicht, deswegen mache ich es nie. Genauso ist es mit normaler Kommunikation. Wir wissen alle, dass wir es tun sollten, aber es ist hart und braucht viel Durchsetzungsvermögen, es macht keinen Spaß. Innere Kommunikation verbraucht viel mentale Energie, aber sobald man die Routine raushat, wird es leichter. Jedes Mal wird es ein wenig leichter. Wenn wir jemanden gefunden hatten, den wir mochten und die Person uns mochte, übten wir viel gemeinsam. Diese Person hat dann mit anderen geübt und so weiter.

Anfangs haben wir auch viele komische Experimente gemacht, die absurdesten Sachen. Wir haben absichtlich Sachen gemacht, die eine bestimmte Person triggern würde, Tarot Karten, Pendeluhren. Alles, um Antworten zu bekommen, aber diese Techniken haben natürlich nicht funktioniert. Jetzt wissen wir, wie es funktioniert und es ist viel leichter geworden.

Wie trefft ihr Entscheidungen, die Einfluss auf alle im System haben können?

Wir verhandeln oder stimmen ab, manchmal ist das aber nicht ethisch genug. Zum Beispiel, wenn es um eine Operation geht, die einen vielleicht das restliche Leben begleitet. In solchen Fällen reden wir mit unseren Headmates, auch wenn es unangenehm sein kann. Manchmal dauert es sehr lange, jeden auf eine Wellenlänge zu bringen. Und wenn das nicht funktioniert, wird es Momente geben, wo man es trotzdem durchzieht oder eben nicht.

Nicht jeder sieht aus, wie euer Körper, insbesondere weil sich nicht jeder als Frau identifiziert. Habt ihr verschiedenes Gewand?

Richtig. Die meisten von uns sehen anders aus als der Körper. Wir haben Perücken vorbereitet und schneiden unsere eigenen Haare kurz. Es ist leichter, als lange Haare kurz aussehen zu lassen.

Dann haben wir einen Kleiderschrank gefüllt mit Männer-, Frauen- und nicht binärem Gewand. Oder auch bestimmte Sachen, in denen sich Leute wohl fühlen. Es ist aber nicht so, dass wir zehn Mal am Tag Kleidung wechseln. Wenn wir wechseln, wer vorne ist, wird diese Person nicht Gewand wechseln.

Vor einer Weile haben wir gerne hohe Schuhe getragen, was wir heutzutage nicht mehr machen, weil ein Headmate, das ein kleines Kind ist, nach vorne gekommen ist, während wir solche Schuhe getragen haben. Wir waren draußen und es konnte darin nicht laufen, deswegen ist es die ganze Zeit gestolpert, weshalb wir unseren Knöchel verletzt haben. Das ist der Grund, warum wir versuchen, nur noch flache Schuhe zu tragen.

Anfang 2020 habt ihr eure eigene gemeinnützige Organisation „The Plural Association” gegründet. Was war die Motivation hinter dieser Entscheidung?

Wir haben diesen großen, weltweiten Mangel an Hilfe für Leute bemerkt, die keine Gemeinschaft oder Unterstützung haben. Einen Ort, wo sie wirklich sie selbst sein können. In unseren Kreisen werden Leute oft nicht reingelassen. „Ein System muss so aussehen. Falls es nicht so aussieht und ihr euch nicht so verhaltet, dann könnt ihr nicht Teil der Gruppe sein”, heißt es oft. Das hat dazu geführt, dass viele ihre Systeme versteckt haben, weil sie Angst vor Ausgrenzung hatten.

Wir dachten, wir wollen das nicht. Deswegen haben wir eine Gruppe gestartet, wo jeder willkommen ist und wo sie so sein können, wie sie wollen, solange es niemanden schadet. Diese Gruppe ist größer und größer geworden. Daraufhin sind wir zu einer Konferenz in Orlando, Florida, geflogen und haben ungefähr 20 andere Systeme getroffen. Wir haben darüber geredet, wo wir uns als Bewegung und Gemeinschaft befinden und in welche Richtung wir gehen wollen. Dabei haben wir uns von der LGBTQIA+ Community und auch von Autism Speaks, der Autismus Bewegung, inspirieren lassen. Wir wollten das gleiche erreichen. Also starteten wir mit Online-Konferenzen und organisierten Plural Events, was schnell sehr beliebt wurde. Allein im ersten Jahr hatten wir 40 Leute, die sich als Sprecher angemeldet haben.

Was sind die Ziele der Organisation?

Wir haben online Hilfsgruppen und ein Hilfsprogramm. Darin gibt es wieder kleinere Gruppen, denen Leute beitreten können, damit sie über eigene Themen und Ziele reden können.

Zum Beispiel gibt es Gruppen für Leute, die Transgender sind, Autismus gemeinsam mit DID haben etc. Alles ist online und ersetzt natürlich keine Therapie, denn es ist keine Therapie, aber ein Extra-Service, den wir anbieten und der zusätzlich helfen kann. Was wir bald in die Welt setzen, ist die Plural Warmline, wo Systeme unser Team kontaktieren können und ihre Geschichten und Besorgnisse mit ausgebildeten Freiwilligen teilen können. Das ist sehr aufregend, weil Leute einfach ihr Handy aufheben können und sofort jemanden erreichen, der die Erfahrungen teilt, versteht und helfen kann.

Mehr Infos auf: https://thepluralassociation.org/