„Ich weiß nicht, welche Geschlechtsidentität eine Person hat, wenn sie nicht mit mir darüber redet.“

Johann Redl studiert Gender Studies und Umwelt- und Bioressourcenmanagement und hat eine monatliche Musiksendung bei Radio Orange 94.0. Johann identifiziert sich als nicht-binär oder „non binary“. Nicht-binär ist eine Selbstbezeichnung von Personen, die sich außerhalb der binären Geschlechterordnung verorten, die also weder (nur) weiblich, noch (nur) männlich sind. Sie können beides, wechselnd, weder-noch, dazwischen oder mehreres sein. Johann wurde bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen. Johann selbst definiert das eigene Geschlecht jenseits der Kategorien männlich und weiblich.

Wie definierst du es, nicht-binär zu sein?

Nicht-binär bedeutet für mich, Normen zu hinterfragen. Es gibt viele verschiedene Definitionen und viele Dinge, die in nicht-binär hineinfallen und die ich nicht alle selbst repräsentiere. Von meinem Standpunkt aus, wenn es um nicht-binäres Geschlecht geht, bedeutet es, die Aufteilung in Mann und Frau zu hinterfragen. Was ist männlich? Was ist weiblich? Und damit verbunden auch: Welche sexuelle Orientierung habe ich? Welche Kleidung trage ich? Ich versuche möglichst, eigene Entscheidungen zu treffen. Selbstbestimmt die eigene Geschlechtsidentität zu leben – das bedeutet für mich nicht-binär.

Definition nach Michaela Horvat

Nicht-binäre Personen […] sind Menschen, die sich einerseits nicht mit dem Geschlecht identifizieren, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, gleichzeitig aber auch nicht mit dem „anderen“ Geschlecht einer binären Geschlechterordnung, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Das bedeutet, dass nicht-binäre Personen sich selbst als zwischen den, außerhalb der oder nicht in Relation zu binären Geschlechtern (also Mann/Frau) sehen, um nur einige Beispiele zu nennen. Eins muss im Hinterkopf behalten, dass hier die einzig richtige Definition jene der Personen selbst ist und andere Menschen dabei nichts zu sagen haben. […] Im Endeffekt geht es um Individuen und das bedeutet, dass manche nicht-binäre Menschen sich hier nicht wiederfinden, weitere eigene Definitionen haben oder eben keine (wollen) […]

Horvat, Michaela (2018): Männlich/Weiblich/Sonstige: Nicht-Binäre Menschen in Österreich. Masterarbeit an der Universität Wien.

Triffst du jeden Tag aufs Neue Entscheidungen im Hinblick darauf, wie du deine Geschlechtsidentität lebst?

Das ist nicht unbedingt etwas, das ich mir aussuche. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mich in einem sozialen System befinde, aus dem ich nicht herauskann. Die Welt ist binär geschlechtlich strukturiert. Sei es, wenn du auf die Toilette gehst, oder wenn du Kleidung kaufst – bis hin zu existentiellen Fragen wie, ob du eine Wohnung bekommst oder einen Job. Ich glaube, dass ich ganz viele dieser Entscheidungen unbewusst treffe und mir nicht aussuche. Nicht-binär ist eine Haltung, eine gewisse Art von Widerstand und wie gesagt, ein Hinterfragen von der zweigeschlechtlichen Norm. Das ist etwas, das man immer aktiv tun muss, insofern würde ich dir schon zustimmen. Andererseits, wenn es darum geht, wie ich mich definiere, ist es nicht so, dass ich mich jeden Tag neu definieren muss. Im Gegenteil. Ich bin mir sehr sicher mit meiner Identität. Natürlich muss ich diese je nach Situation ein bisschen anders ausverhandeln, aber mit mir selbst bin ich da schon sicher. Wie ich meine Geschlechtsidentität nach außen vertrete – das ist das, was ich aktiv mache.

Musst du dich oft erklären?

Es kommt darauf an. In manchen Bereichen spreche ich sehr offen darüber, auf Social Media, in der Musik, die ich mache, oder in meiner Radiosendung. Ich verstehe schon, – wenn ich über solche Themen öffentlich kommuniziere, – dass Leute sich dafür interessieren. Das freut mich auch. Das sind auch angenehme Gelegenheiten, um sich zu erklären, weil ich das Gefühl habe, ich kann es mir aussuchen, ob ich das machen will, oder nicht. Gleichzeitig – und das ist vielleicht auch das Spannende in Bezug auf Komfortzone, – gibt es auch viele Bereiche in meinem Leben, wo ich das überhaupt nicht erklären möchte. Bereiche, in welchen ich mit Konsequenzen rechnen muss, mit welchen ich mich momentan nicht auseinandersetzen will.

Was sind das für Bereiche?

Zum Beispiel Familie.

Da thematisierst du das gar nicht?

Genau. Also es kommt darauf an, welcher Teil meiner Familie es ist. Meine Eltern sind getrennt. Meine Familie väterlicherseits ist sehr konservativ und religiös geprägt. Oder ein anderes Beispiel ist: Wenn ich mich in bestimmten Männergruppen befinde, fühle ich mich nicht unbedingt wohl dabei, mich queer nach außen zu geben und auffällige Kleidung oder Make-Up zu tragen. Ich will nicht in jeder Situation mit irgendwelchen anderen Pronomen angesprochen werden, weil es gefährlich sein kann. Wenn ich in solchen Situationen gezwungen werde, mich zu erklären, dann ist es etwas Negatives.

Wenn du sagst „gefährlich“ – heißt das, dass du schon einmal Angst hattest?

Ich hatte schon Angst. Ich wurde auch schon angegriffen auf der Straße. Aber ich weiß nicht, inwieweit das mit meiner Gender Expression zusammenhängt, oder, ob das ein dummer Zufall war.

Aber du hast es damit in Verbindung gebracht?

Es ist schwer zu sagen. In meinem Fall waren es hypermaskuline, weiße Männer, die mich angegriffen haben. Es gibt schon eine gewisse Grundangst, vor allem im öffentlichen Raum, aber ich bin auch kein Mensch, der das allzu sehr nach Außen trägt. Es ist nicht so, dass ich alles repräsentieren muss, sondern es geht mir um die Ebene, das alles zu hinterfragen und wie man sich in weiterer Folge verhält. Aber sicher habe ich auch manchmal Angst in Situationen, in welchen ich mich nicht der Norm entsprechend verhalte. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Angst da, um überwunden zu werden. Ich glaube, diese Angst ist ein bisschen ein Ansporn, etwas zu tun und zu zeigen. Diese Angst entsteht, wenn man sich außerhalb dieses zweigeschlechtlichen Systems bewegen möchte. Das ist einfach mit Angst verbunden. Denn es ist etwas anderes als die Normalität. Ich bin auf genug anderen Ebenen privilegiert, von daher ist es eine sehr partikuläre Perspektive. Aber sicher spüre ich das trotzdem. Gerade im öffentlichen Raum.

Also trägst du deine Geschlechtsidentität nicht immer nach außen?

In manchen Bereichen trage ich das ständig nach außen. In manchen anderen Bereichen ist es nur viel schwieriger.

Was hältst du von der Bezeichnung „divers“ in Pass oder Personalausweis?

Ich weiß, dass sehr viele Transpersonen das nicht ausreichend finden. Dadurch finde ich es auch nicht gut. Alleine schon wie das klingt: divers. Das klingt so nach „ja eh so“ (macht wegwerfende Handbewegung). Und abgesehen davon, wie es heißt: dadurch, dass es nur diese eine Bezeichnung gibt, ist es extrem schwer, diese Eintragung überhaupt zu bekommen. Soweit ich weiß, musst du wirklich ganz bestimmte Kriterien erfüllen.1 Ich glaube nicht, dass Transpersonen diese Eintragung haben können, wenn sie ein transitioning machen. „Divers“ ist einfach keine genaue Bezeichnung und gleichzeitig ist alles sehr reguliert. Ich persönlich lege grundsätzlich nicht viel Wert darauf. Natürlich ist es besser, als nur männlich und weiblich als Optionen zu haben, aber wenn es noch eine neue Bezeichnung geben soll, dann eine Selbstbezeichnung und nicht irgendein bürokratischer Begriff, der über alle drübergelegt wird, nur weil der Europäische Verfassungsgerichtshof gesagt hat, dass man das jetzt so machen muss.

Fändest du es gut, wenn die Geschlechtsbezeichnung so individuell ist wie der Name?

Ich fände es auch schon gut, wenn es ein paar Optionen zur Auswahl gibt, aus welchen man sich etwas aussuchen kann. Es reichen von mir aus auch fünf Kategorien. Ich denke, da könnten sich die meisten Leute wiederfinden. „Non binary“ ist eine riesige Überkategorie. Von daher wäre das schon ein guter Anfang. Die Frage ist: Warum ist es überhaupt notwendig, das Geschlecht eintragen zu lassen? Man könnte das ja auch ein bisschen anders denken. Auch, wenn man sich anschaut, wer Zivildienst machen muss. Also ich finde das alles nicht optimal.

(c) Maëlle Nausner

Ist Geschlechtsidentität ein Thema, wenn du neue Leute kennenlernst?

Wenn ich eine Person kennenlerne, egal in welchem Zusammenhang, ist es mir in erster Linie nicht wichtig. Ich date auch nicht bevorzugt nach dem Geschlecht, welches Leute ausdrücken. Anfangs weiß ich es ja auch gar nicht. Ich weiß nicht, welche Geschlechtsidentität eine Person hat, wenn sie nicht mit mir darüber redet. Und genau das mache ich nicht: den Fokus darauf legen, um es sofort herauszufinden. Allerdings, wenn es gerade passt und man sich wohl fühlt, darüber zu sprechen, dann interessiert es mich sehr wohl. Es ist ja ein Thema, mit dem ich mich auseinandersetze und worüber es sich lohnt, zu reden. Es ist auch sehr empowernd, darüber zu reden. Dadurch, dass man es anderen Leuten erzählt, formuliert man es auch ein bisschen für sich.

Was sind Pronomen, die du für dich angewandt haben möchtest?

Auf Deutsch: keine. Johann einfach. Aber wenn Leute ihren eigenen Weg haben, das auszudrücken, zum Beispiel, wenn sie ein bestimmtes Pronomen verwenden, dann ist mir das auch recht. Abgesehen davon ist es mir wichtig zu betonen, dass ich nicht in jeder Situation auf diese Art und Weise geoutet werden möchte. Na gut, es ist immer auch die Frage, ob andere Personen das überhaupt verstehen und mit solchen Pronomen etwas anfangen können.

Welche Pronomen meinst du genau?

Zum Beispiel so spezielle Pronomen wie „xier“. Das ist im deutschen Sprachgebrauch ein relativ verbreitetes Pronomen. Ich will nicht in jeder Situation mit so einem Pronomen geoutet werden. Aus den Gründen, die ich vorher schon geschildert habe: weil es eben auch gefährlich sein kann. Manchmal ist es mir sogar lieber, Leute nennen mich „er“, weil es sich sicherer anfühlt.

Aber Freund*innen sagen nur Johann zu dir.

Ja. Es gibt natürlich auch welche, die „er“ sagen.

Korrigierst du sie dann?

Je nach Lust und Laune. Ich korrigiere sie schon meistens, aber je nach Situation. Natürlich nicht immer.

Wann hast du damit begonnen, deine Geschlechtsidentität nach außen zu tragen?

Ich würde sagen, das passiert schrittweise. Meine Geschichte geht so, dass ich mit ungefähr 17 Jahren gemerkt habe, dass ich bisexuell bin. Ich habe mich bisexuell gefühlt und habe das auch so gelebt. Ich habe mich vor allen immer als bisexuell geoutet. Einen Outing Moment dieser Art hatte ich in Bezug auf meine Nicht-Binarität gar nicht. Vor manchen Leuten – eigentlich vor meiner ganzen Familie,- bin ich überhaupt nicht geoutet. Und vor meinen Freunden musste ich mich größtenteils auch nicht outen.

Aber damit sie nicht mehr „er“ sagen, musste schon ein Gespräch stattfinden, oder?

Ja, das stimmt. Ich versuche gerade, das zu rekonstruieren. Als ich wirklich angefangen habe, mich als nicht-binär zu identifizieren, war es zuerst einmal so, dass mich das Thema Pronomen gar nicht interessiert hat. Ich habe das schon gekannt, aber ich war mir noch nicht sicher, ob ich ein anderes Pronomen für mich möchte, oder ob das männliche Pronomen für mich passt. Der erste Moment, in dem ich mich so wirklich geoutet habe, war mit meiner Ex-Freundin. Das war auch keine schöne Erfahrung, weil sie sehr negativ darauf reagiert hat. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich schuld daran bin, dass sie dadurch ihre Heterosexualität in Frage stellen muss. Im Nachhinein hat sie sich dafür entschuldigt, aber diese Reaktion war nun einmal sehr auf sich selbst zentriert und nicht auf mich und auch nicht akzeptierend. Daraufhin habe ich mit meinen Freunden kaum darüber gesprochen. Erst, als ich mit meiner Radiosendung begonnen habe, wurde es offensichtlich. In den ersten Sendungen habe ich ausschließlich Leute eingeladen, die sich als „non binary“ identifizieren. Wir haben in den Sendungen auch viel über dieses Thema gesprochen. Ich gehe davon aus, dass meine Freunde, indem sie meine Sendungen gehört haben, verstanden haben, dass es ein Thema ist, das mich interessiert. Auch in der Musik, die wir gemacht haben, waren eindeutige Botschaften. Das war so politischer Punk. Noch mehr kann man sich wahrscheinlich gar nicht outen. Zum Beispiel haben wir einen Song geschrieben gegen zweigeschlechtliche Toiletten. Dieses Outing ist somit schrittweise passiert. Mittlerweile denke ich mir, ich muss es nicht die ganze Zeit nach außen tragen. Es ist schön, wenn Menschen dieses Interview lesen und sich dadurch empowered fühlen. Das ist schon wichtig. Ich würde immer dafür stehen, aber gleichzeitig muss ich nicht immer alles repräsentieren. Es geht auch darum, wie man sich dabei fühlt.

1 Die MA 63 legt für in Wien geborene volljährige Personen folgenden grundsätzlichen Voraussetzungen für die Änderung des Geschlechts bei Transsexuellen fest:

ein Gutachten einer Fachärztin/eines Facharztes für Psychiatrie oder einer Psychotherapeutin/eines Psychotherapeuten oder einer klinischen Psychologin/eines klinischen Psychologen, das Folgendes enthält:

Diagnose “Transidentität“,

Erklärung, dass ein Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht besteht und dieses aller Voraussicht nach weitgehend irreversibel ist,

Mitteilung, dass eine deutliche Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts zum Ausdruck kommt.

Mangels ausdrücklicher Regelung kann es je nach Bundesland zu unterschiedlich formulierten Voraussetzungen bzw. geforderten Unterlagen kommen.

https://www.oesterreich.gv.at/themen/dokumente_und_recht/%C3%84nderung-der-Geschlechtszugeh%C3%B6rigkeit.html
(c) Matjaž Štefanič

Weiterführende Links:

Non-binäres Geschlecht

Missy Magazine: Was heißt nicht binär?

Queer Lexikon: Nichtbinär

Queer Lexikon: Queer             

Queer Lexikon: Transgender

Der Standard: Was die Option des Dritten Geschlechts bedeutet