„Corona führt vor Augen, wie stark diese Gesellschaft gespalten ist“

Susanne Glass leitet seit fünf Jahren das ARD-Studio in Tel Aviv und berichtet über Israel und die Palästinensergebiete. Zuvor war sie Korrespondentin für Österreich und Südosteuropa und hat in Wien immer noch einen Zweitwohnsitz. Im Interview mit Roderick Martin spricht Glass darüber, wie sie die Corona-Pandemie im Ausland erlebt und warum sich Israel schnell wie eine Insel anfühlt. Sie berichtet zudem, dass die Krise tiefe Gräben in die israelische Gesellschaft gerissen hat und dass ausgerechnet im Corona-Jahr die Lösung im Nahost-Konflikt neuen Schwung bekam – auch dank Donald Trump.

In Krisenzeiten ist es angenehmer, in einem Umfeld zu sein, wo man Freunde und Familie hat, wo auch die staatlichen Abläufe vertraut sind. Das gibt vielen Menschen Sicherheit. Sie sind aus Deutschland, erleben die Corona-Pandemie jedoch in Israel. Wie fühlt es sich in einem fremden Land an?

Ich habe tatsächlich in diesem Jahr wieder verstärkt gemerkt, dass ich Europäerin bin. Natürlich liebe ich es, in Israel zu leben, aber für mich war es schon wichtig, dass die Möglichkeit besteht, mit einem Flugzeug nach Europa zu fliegen. Ich bin aus Deutschland und habe lange Zeit in Österreich gelebt, wo ich noch eine Wohnung habe. Jetzt war es sehr schwierig festzustellen, dass Israel ein sehr kleines Land ist und wenn dann der Flughafen geschlossen ist, fühlt es sich an wie eine Insel – denn mit dem Auto kommst du in Israel nicht weit. Hier stößt du sehr schnell an die Grenzen von Feindesländern, das ist in Europa anders.

Wie gut fühlen Sie sich aufgehoben, was die gesundheitliche Komponente betrifft?

Ich frage mich schon, wie ich als Ausländerin behandelt werden würde, wenn ich ins Krankenhaus komme und auf ein Intensivbett angewiesen wäre. Ich hoffe, sehr gut. Vor allem, wenn man bereit ist, das privat zu bezahlen. Natürlich wünsche ich mir das nicht, denn es gibt zudem noch das Problem mit der Sprache: Ich spreche zwar auf Kindergartenniveau Hebräisch und verstehe es einigermaßen, aber in so einer Situation wäre es noch einmal etwas anderes. Ich weiß aber auf der anderen Seite auch, dass die Gesundheitsversorgung in Israel sehr gut ist. Deshalb mache ich mir keine allzu großen Sorgen.

Konnten Sie im letzten Jahr nach Deutschland oder nach Österreich reisen, wo ihr Mann lebt?

Ich saß tatsächlich am vierten März in einem Flugzeug nach Wien. Als ich rausgeflogen bin aus Tel Aviv, wusste man von nichts, aber in Wien angekommen hieß es, Israel mache seine Grenzen dicht. Jeder müsse dann zuerst in Quarantäne und Ausländer kämen sowieso nicht rein. Somit war ich eines der ersten Opfer der israelischen Corona-Politik. Im übrigen waren ich und mein Mann am Weg nach Panama, wo uns dann die Corona-Pandemie ereilt hat. Wir kamen dann abenteuerlichst über Kolumbien nach Wien zurück, aber nach Israel ging dann für zweieinhalb Monate gar nichts mehr.

In Israel zu arbeiten ist immer sehr herausfordernd. Hohe Sicherheitsvorkehrungen und Checkpoints innerhalb des Landes gehören zum Alltag. Jetzt kommt eine Pandemie dazu. Wie sehr sind Sie in Ihrer Arbeit eingeschränkt?

Ach, das ist momentan schon traurig. Gerade als Auslandskorrespondentin willst du reisen und mit den Leuten reden. Vorneweg: Wir als Journalistinnen und Journalisten dürfen uns frei bewegen, auch wenn es Lockdowns gibt. Aber das bedeutet ja nicht, dass unsere Interviewpartner das können. Die Westbank ist immer wieder abgeriegelt. Vor kurzem drehte ich zum Beispiel in Bethlehem. Dort fand das erste Weihnachten ohne Pilger seit den Kreuzfahrerzeiten statt. Nun haben die Behörden für die Nächte und die Wochenenden Ausgangssperren verhängt. Nach Gaza kam ich seit Pandemie-Beginn überhaupt nicht mehr, denn da müssten wir drei Wochen in Quarantäne. Im Studio selbst haben wir auf einen Zweischicht-Betrieb umgestellt und kamen bis auf eine Ausnahme sehr glimpflich davon. Ein Tonassistent war auf Heimaturlaub in Argentinien und musste nach der Rückreise in Heimquarantäne, wo er dann Corona bekam.

Zur Geburtskirche nach Bethlehem kamen 2020 keine Pilger. Foto: Roderick Martin/Archiv

Israel ist ein hoch entwickeltes Land mit einer guten Gesundheitsversorgung. In den Palästinensergebieten schaut das ganz anders aus. Wie ist die Situation dort?

Da muss man unterscheiden zwischen der Westbank, wo die Fatah regiert und Gaza wo die Hamas herrscht. Gaza wurde tatsächlich in Grund und Boden gewirtschaftet. Da ist auch die israelische Blockadepolitik Mitschuld, die kaum Medikamente oder medizinische Geräte hineinlässt. In Gaza schaut es düster aus und ich würde mich auf keine veröffentlichten Zahlen verlassen. Noch dazu gibt es kaum Tests. Die Hamas traut sich auch keinen Lockdown zu verhängen, obwohl der in Gaza dringend nötig wäre. Die Angst ist so groß, dass der Lockdown die letzte wirtschaftliche Grundlage der Menschen zerstört und diese dann an Hunger, statt an Corona sterben. In der Westbank sieht es ein bisschen besser aus und die Patienten, die intensivmedizinische Betreuung brauchen, werden nach Israel gebracht.

Das Siedlungsgebiet der Palästinenser ist seit 2007 de facto zweigeteilt. Im Westjordanland, auch Westbank genannt, leben 2,8 Millionen Menschen. Hier regiert die Fatah unter Palästinenserpräsident Abbas. Im Gazastreifen herrsch dagegen die islamistische Hamas, die von der EU als Terrororganisation eingestuft wird. Hier leben auf nur 360 km² 1,9 Millionen Palästinenser.

Viele Menschen aus der Westbank fahren nach Israel, um zu arbeiten oder weil sie dort Familie haben. Sind die Übergänge denn offen?

Die sind derzeit offen. Das kann sich aber bei jedem Zwischenfall ändern und hat gar nichts mit Corona zu tun. Dann müssen halt die palästinensischen Arbeiter, die nachts um zwei aufstehen, damit sie um sechs in Jerusalem oder Tel Aviv bei der Arbeit ankommen, an den Übergängen warten.

Israel ist zu Beginn sehr glimpflich durch diese Pandemie gekommen. Im Spätsommer stiegen dann die Zahlen rapide an und zu Spitzenzeiten im September gab es über 9.000 tägliche Neuinfektionen. Worauf ist das zurück zu führen?

Israel ist gut vergleichbar mit Österreich von der Bevölkerung. Beide Länder haben etwa neun Millionen Einwohner. Israel hat im Frühjahr schnell alles dicht gemacht und stand so nach dem Lockdown wieder gut da. Allerdings machte die Regierung dann den Fehler, das Land wieder zu schnell zu öffnen. Premierminister Benjamin Netanjahu hat auch den Leuten geraten, raus zu gehen, sich zu vergnügen und ein Bier zu trinken. Die Infektionszahlen stiegen dann so rasant an, so schnell konnte man gar nicht schauen. Das war gruselig. Tel Aviv, das als Partystadt und Mittelmeermetropole gilt, stand dabei überraschenderweise gut da. Die Höchstwerte gab es in den ultraorthodoxen und den arabischen Gemeinden. Es sind auch skandalöse Videos von Massenhochzeiten aufgetaucht, wo hunderte Menschen zusammen feierten, ohne Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten oder Masken zu tragen. Die Mehrheit in Israel muss dafür büßen, dass eine kleine Gruppe die Regeln ignoriert. Das führt zu Spannungen.

Die Entwicklung der Corona-Pandemie in Israel im Vergleich zu Österreich.

Sie haben bereits die ultraorthodoxe Bevölkerung angesprochen, die staatliche Vorgaben und Regeln nur ungern akzeptiert. Nun heißt es, sie wären für die zweite Corona-Welle verantwortlich gewesen. Führt das Verhalten dieser Gruppen auch zu einer Polarisierung innerhalb der israelischen Gesellschaft?

Tatsächlich führt Corona den Israelis vor Augen, wie stark die Gesellschaft in Säkulare und Ultraorthodoxe gespalten ist. Wir rezipieren im Ausland häufig immer nur den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Aber wie extrem divers die israelische Gesellschaft ist, ist vielen nicht bewusst. Bis jetzt hatten die Säkularen immer die Einstellung: „Leben und leben lassen“. Damit war gemeint, dass auch die Ultraorthodoxen ihren Platz im jüdischen Staat haben sollen. Dadurch, dass diese aber nur auf ihre Rabbis hören, die noch dazu zum gemeinsamen Beten in die Synagoge und Hochzeiten feiern aufrufen, reicht es nun den Säkularen. Ich habe Freundinnen die sagen, sie hassen die Ultraorthodoxen, denn sie seien der Grund, warum wir Corona-Risikogebiet sind und nicht reisen dürfen. 

Gibt es da politische Konsequenzen für die ultraorthodoxe Gemeinde?

Wie soll es denn Konsequenzen geben, wenn Premierminister Benjamin Netanjahu, der massiv ums politische Überleben kämpft, in seiner Koalition auf die Orthodoxen angewiesen ist? Ohne Sie schafft er keine Regierungsmehrheit mehr. Die treiben ihn vor sich her. 

Tatsächlich steht die Regierung von Benjamin Netanjahu sehr unter Druck, wie einige Umfragen zeigen. Laut Israel Democracy Institute glauben 55 Prozent, dass der Lockdown politisch motiviert war. Auch die Vertrauenswerte in Premierminister Netanjahu haben sich im Vergleich zum Frühjahr halbiert und liegen nur mehr bei 31 Prozent. Woher kommt dieses tiefe Misstrauen in die Politik?

Das Corona-Management der Regierung war tatsächlich sehr schlecht und ohne Plan. Es gab an einem Tag Ankündigungen, die am nächsten Tag wieder zurückgenommen wurden, beispielsweise über Schließungen von Restaurants oder Stränden. Dann haben die Restaurantbesitzer und andere Gruppen rebelliert und die Maßnahmen wurden wieder zurückgenommen. Es gab einfach keinen richtigen Kurs. Parallel dazu ging die Arbeitslosigkeit durch die Decke. Vor dem ersten Lockdown gab es hier drei bis vier Prozent Arbeitslose und plötzlich hatten 25 Prozent der Israelis keinen Job mehr. Ich kenne viele junge Menschen, die ihren Job verloren haben und zu ihren Eltern zurückziehen mussten. Die stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Das hat Netanjahu sehr geschadet. Sein Image als starker Mann, der auch die Wirtschaft zusammenhält, hat dadurch gelitten.

In der internationalen Berichterstattung hörte man in diesem Jahr abseits von Corona wenig aus Israel – mit einer großen Ausnahme: Die Entspannungspolitik mit einigen arabischen Staaten. Die ziemlich besten Freunde Donald Trump und Benjamin Netanjahu feierten dies auch als persönlichen Erfolg. Was können wir nach dem Wechsel im Weißen Haus nun erwarten?

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Kommentar unter dem Titel „Trump sei Dank“ schreibe. Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber man muss auch anerkennen, wenn er etwas geleistet hat. Donald Trump schaffte tatsächlich eine Entspannungspolitik zwischen Israel mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und dem Sudan. Die Normalisierungs-Abkommen, die Trump vermittelt hat, waren vor allem getrieben von Geschäftsinteressen. Gerade, was die Emirate betrifft und was Saudi-Arabien beträfe, mit dem Israel sehr gerne ein Normalisierungs-Abkommen hätte. Da erhofft man sich Milliardengewinne. Aber das ist nicht schlimm, denn alles, was eine Entspannung in der Region bedeutet, ist von Vorteil.

Und sehr zum Nachteil der Palästinenser…

Was die Palästinenserfrage betrifft, sind wir tatsächlich nicht mehr weitergekommen. Ich bin seit fünf Jahren hier und werde ständig gefragt, wie es aussieht mit einer Zwei-Staaten-Lösung. Da musste ich immer sagen, dass nichts weitergeht und es keine Hoffnung gibt in diesem eingefrorenen Konflikt. Jetzt sehe ich, dass von einer anderen Seite Bewegung reinkommt und da finde ich es nun wichtig, dass wir mit Joe Biden einen neuen Mann im Weißen Haus haben. Er als ehemaliger Stellvertreter von Barack Obama kann auch die Palästinenser ins Boot holen, nachdem unter Trump alle Kontakte abgerissen waren. Sein neuer Außenminister ist zudem jüdischer Abstammung und auch der Ehemann von Vizepräsidentin Kamala Harris ist Jude. Diese Normalisierung mit arabischen Staaten, plus die Kombination, dass die Palästinenser mit Biden wieder reden wollen, halte ich für einen großen Hoffnungsschimmer für diese Region. Das ist eigentlich eine großartige Geschichte und kommt momentan zu kurz.

Von Großartigem zurück zu den kleinen Dingen des Lebens: Wie schaffen Sie es derzeit, von all dem Trubel abzuschalten und in ihre Komfortzone zurückzukommen?

Im Juni und Juli, als ich dann nach dieser Odyssee und einer zweiwöchigen Quarantäne wieder zurück in Israel war, hatte ich eine sehr schwere Phase. Da ging es mir auch persönlich sehr schlecht mit der Situation. Dann entschied ich, dass es nicht besser wird, wenn ich nur Trübsal blase. Ich habe jetzt angefangen, neben Hebräisch, auch Arabisch zu lernen. Ich merke auch, dass ich viel mehr für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter da sein muss, weil auch da einiges abgeglitten ist. Es ist eine schwierige Zeit für uns alle. Aber ich bin privilegiert, kann arbeiten und stehe nicht vor der Existenzfrage, wie so manche Israelis. Deshalb erlaube ich es mir nicht, zu sehr zu jammern.

Weiteführende Links:

ARD-Weltspiegel: Wer profitiert bei der Annäherungspolitik?

Trump sei Dank | Die FURCHE

Corona Virus in Israel: Health Ministry

Die Geschichte Palästinas