In Österreich gibt es rund 85.000 Pfadfinder*innen, die aufgeteilt sind auf rund 300 Gruppen. Die jüngeren Gruppen werden von Jugend- bzw. Gruppenleiter*innen betreut, von denen die meisten selber früher Pfadfinder*innen waren. Wenn es durch Corona nicht gerade verhindert wird, sehen die Leiter*innen ihre Gruppe einmal wöchentlich und fahren einmal im Sommer zusammen mit ihren Schützlingen auf ein zweiwöchiges Sommerlager. Sie sind speziell für die jüngeren Pfadfinder*innen eine wichtige Bezugsperson in deren Leben. Deswegen geraten die Gruppenleiter*innen jedoch auch oft in schwierige Situationen, auf welche sie bei den Pfadfinder*innen kaum vorbereitet werden.
Um die Leiter*innen in ihren Aufgaben zu unterstützen, bieten die Pfadfinder*innen Aus- und Weiterbildungsseminare an. Trotzdem bilden diese Seminare lediglich einen Grundstein. Manuel, Kathi und Sarah sind Jugend- bzw. Gruppenleiter*innen bei unterschiedlichen Gruppen der Pfadfinder*innen und berichten von ihren Eindrücken zu diesen Seminaren, als auch von Erfahrungen, auf die sie sich trotz ihrer Ausbildung nicht vorbereitet gefühlt haben. Die Interviews wurden separat voneinander durchgeführt.*
Haben Sie sich nach den Ausbildungsseminaren der Pfadfinder*innen ausreichend qualifiziert gefühlt um mit Kindergruppen zu arbeiten?
Manuel: Ich habe das Problem, dass meine Gruppe eine der größten in Wien ist und diese Seminare auf weitaus kleinere Gruppen ausgelegt sind. Für uns sind viele der Dinge, die da vorgestellt werden, so nicht umsetzbar. Die Seminare an sich haben mir meistens nicht so viel mitgegeben. Was mir oft mehr geholfen hat, war der Austausch mit anderen Gruppenleiter*innen.
Kathi: Also es gab für mich bei den Seminaren einige Punkte, die neu und spannend waren. Sehr viel davon wusste ich aber schon im Vorfeld, da ich es recherchiert habe, weil es mich persönlich interessiert hat. In diesen Seminaren bespricht man halt wirklich nur die „Basics“. Alles was auf einem Lager zum Beispiel auf einen zukommt wird da nicht wirklich besprochen.
Sarah: Das kann ich nicht genau sagen, da ich noch am Anfang meiner Ausbildung stehe. Ich leite trotzdem meine Gruppe schon seit zwei Jahren und eine Kollegin von mir leitet bereits seit zehn Jahren und hat die Ausbildung nie gemacht. Ich finde, dass die Ausbildung der Pfadfinder*innen allgemein sehr willkürlich ist, da es keinen richtigen Rahmen gibt. Speziell in größeren Pfadfindergruppen ist es sehr verbreitet, dass es Leiter*innen gibt die gar keine Weiterbildungsseminare absolviert haben.
Haben Sie schon Situationen erlebt, in denen Sie nicht gewusst haben, wie Sie sich verhalten sollen?
Manuel: Ja. Ein Kind aus meiner Gruppe hat mal damit begonnen, mich über den Selbstmord eines Freundes von mir auszufragen, der früher selber Pfadfinder war. Das war in dem Moment einfach zu viel für mich.
Kathi: Einmal ist auf einem Lager ein Kind zu mir gekommen, dessen Großmutter im Sterben lag und das Kind hat das erst kurz vor dem Lager erfahren. Daher hatte es sehr Heimweh, da es nicht wusste, ob es seine Großmutter nochmal sehen wird. Ich habe das Kind zwar getröstet, aber es war sehr schwierig für mich, da ich überhaupt nicht auf so eine Situation vorbereitet war.
Sarah: Ja, da wir allgemein schon sehr viel mitbekommen. Wir hatten zum Beispiel einmal ein Mädchen in unserer Gruppe, wo wir mitbekommen haben, dass sie sich ritzt und wir nicht wussten, wie wir das ansprechen sollen.
Welche Themen sollten Ihrer Meinung nach mehr in die Ausbildungsseminare der PPÖ (der Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreich) einfließen?
Manuel: Könnte ich jetzt akut nicht sagen. Mein Problem mit diesen Seminaren war immer, dass sie sehr oberflächlich sind, da sie von Personen geführt werden, die die Materie selber nicht studiert haben oder Fachleute auf diesem Gebiet sind. Das sind Personen, die selber bei einer Ausbildung waren und ihr gelerntes Wissen weitergeben. Es wäre wichtig, dass gewisse Seminare von Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet geführt werden und tiefgründiger sind.
Kathi: Auf jeden Fall der pädagogische Aspekt und wie man mit Themen umgeht, die einen an seine eigenen Grenzen bringen. Speziell nach den Sommerlagern bin ich oft körperlich als auch seelisch sehr ausgelaugt, weil man einfach zwei Wochen lang sowohl Aufpasser als auch Bezugsperson für so viele Kinder ist.
Sarah: Die Gewaltprävention-Module sind auf jeden Fall nicht ausreichend und auch das Thema Sexualität wird praktisch gar nicht behandelt. Speziell da besteht großer Aufholbedarf. Auch Diversität und Vielfalt wird in den Seminaren zum Beispiel überhaupt nicht behandelt.
Da sich die Kritik an den Aus- und Weiterbildungsseminaren der Pfadfinder*innen Österreich in mehreren Aspekten sehr ähnelt, wurde anschließend an die Interviews Frau Biggi Stockinger-Hofer interviewt. Sie arbeitet als Assistentin der Bundesgeschäftsführung innerhalb der PPÖ und ist darüber hinaus Ansprechpartnerin in Angelegenheiten der Bundesausbildung.
Frau Stockinger-Hofer, wie wird man bei den Pfadfinder*innen eigentlich Gruppen- bzw. Lagerleiter*in?
Grundsätzlich muss man das 17. Lebensjahr vollendet haben und in der Gruppe aktiv sein. Dann gibt es ein sogenanntes Vereinbarungsgespräch zwischen der Gruppenleitung und diesem neuen Gruppenleiter bzw. Leiterin. Da geht es darum, was es heißt, zu leiten, wie viele Zeitressourcen ich habe, was ich nicht leisten kann, weil es natürlich nicht damit getan ist mit Kindern oder Jugendlichen in einer Heimstunde zu stehen, sondern jede Pfadfindergruppe hat Gruppenaktionen und andere Aktivitäten, die einfach auch Zeit kosten. Wenn dieses Gespräch erledigt ist, wird mit einem Gruppenausbildungsbegleiter der Ausbildungsweg besprochen. Da geht es darum, dass Jugendleiter*innen ansich verpflichtet sind, eine PPÖ interne Ausbildung zu machen. Das sind sogenannte Präsenzseminare, die meistens einen Tag oder ein Wochenende dauern.
Die Gruppen- und Lagerleiter*innen der PPÖ sind für die Kinder und Jugendlichen oft Bezugspersonen und werden dadurch auch immer wieder mit seelischen Konflikten oder Problemen des Erwachsenwerdens konfrontiert, gibt es für solche Themen auch Seminare?
Es gibt keine konkreten Entwicklungspsychologie-Seminare, wenn Sie das meinen. Wir hatten früher mal Entwicklungspsychologie-Einheiten bei den Seminaren, aber das waren nie mehr als 90 Minuten – sprich, da ging es nie wirklich in die Tiefe und Fakt ist, dass wir im freizeitpädagogischen Bereich tätig sind und keine Psychologen sind. Deswegen hüten wir uns auch davor, diesen Eindruck zu erwecken. Auch den Jugend- bzw. Gruppenleiter*innen gegenüber. Wir haben eine Kooperation mit Rat auf Draht, die wir publizieren und auch pushen. Es gibt zwar Jugend- und Gruppenleiter*innen, die Psychologen sind, weil sie es beruflich machen, aber es gibt keine Ausbildung. Wir haben Entwicklungsziele, die Teil unseres pädagogischen Konzepts sind. Das heißt, wir unterstützen die Kinder und Jugendlichen in gewissen Bereichen, in welchen wir uns zuständig sehen, aber wir haben keine psychologische Ausbildung. Das ist ganz wichtig.
Aber würden Sie es nicht als sinnvoll erachten, dass eine psychologische Ausbildung für Leiter*innen zumindest grob in die Weiterbildungsseminare miteinfließt?
Nein. Das finde ich nicht sinnvoll, weil ich glaube, dass der entwicklungspsychologische Bereich einfach viel zu groß ist, um ihn in 90 Minuten abzuhandeln. Also das Thema sprengt meines Erachtens jegliche zeitlichen Möglichkeiten, die wir ansatzweise haben. Es gibt natürlich die Möglichkeit, sich freiwillig bei externen Anbietern weiterzubilden. Das wird auch gerne gesehen, aber wir selber bilden keine Psychologen aus. Wenn ein Kind auf einem Lager zum Beispiel zu mir kommt und sagt, dass es zuhause unter Druck gesetzt wird oder betatscht wird, dann übersteigt das einfach meine persönliche Kompetenz und die bilden wir auch nicht aus. Unsere Aufgabe ist es, die Schwere des Problems abzuschätzen und zu schauen, wohin wir dieses Kind hin verweisen können.
Was haben Kinder- und Jugendleiter*innen für Möglichkeiten wenn sie selber mit so einer Situation überfordert sind?
Kein Kinder- oder Jugendleiter leitet eine Gruppe alleine. Es gibt immer ein Team von zumindest zwei Personen. Der erste Schritt ist also immer der Austausch mit der zweiten Person oder im Team, um die Situation zu besprechen und mögliche weitere Schritte gemeinsam zu überlegen. Wir haben bei den Landesverbänden Kontaktstellen, wo sich Leiter und Leiterinnen im Fall von zum Beispiel eines vermuteten Missbrauchs hinwenden können. Dort wird ihnen dann geholfen. Aber auch dort sitzt kein Psychologe. Dort wird dann geschaut, ob man eine Krisenintervention braucht oder ob zum Beispiel Rat auf Draht nicht ausreicht.
Aber würden dann zumindest, wenn diese Kontaktstellen das Problem als schwerwiegend einschätzen, Psychologen bzw. die nötigen Fachleute hinzugezogen werden?
Unter Umständen – natürlich. Wenn es erforderlich ist, dann wird da natürlich Kontakt hergestellt und es werden die notwendigen Personen vermittelt. Aber der Punkt ist nochmal, dass wir selber nicht psychologisch ausgebildet sind. Wir schreiben uns das nicht auf unsere Fahnen. Im Gegenteil, wir schauen, dass wir das ganz klar sagen.
Und werden die Pädagogik-Seminare oder Seminare wie „Sicherheitshalber“, wo es um Jugendschutz geht, von ausgebildetem Fachpersonal abgehalten? Oder wer hält diese Seminare?
Nein, die werden von Trainern und Trainerinnen der Pfadfinder selbst abgehalten.
Wie wird man so ein Trainer bzw. eine Trainerin, um solche Seminare zu leiten?
Dazu muss man eine Trainer*innen-Ausbildung machen bei der PPÖ. Die dauert ungefähr zwei Jahre. Da geht es dann nicht um die inhaltliche Vertiefung, sondern quasi um die didaktische Vertiefung: Wie moderiere ich? Wie präsentiere ich? Wie plane ich ein Seminar? Was sind die Bedürfnisse von jungen Erwachsenen bzw. Jugendlichen? Wie schaffe ich da einen sicheren Rahmen? Was für Methoden im Umgang mit Kindern und Jugendlichen gibt es? Solche Themen eben. Da gibt es dann auch Praxisübungen zu absolvieren und wenn man das geschafft hat ist man ein Trainer bzw. eine Trainerin der PPÖ.
Ich habe im Vorfeld zu diesem Interview mit einigen Gruppen- und Jugendleiter*innen gesprochen und eine hat mir erzählt, dass es sowohl in ihrer Gruppe als auch in verschiedenen anderen Gruppen Leiter*innen gibt, welche gar keine Weiterbildungsseminare besucht haben. Sind diese Seminare nicht verpflichtend?
Eigentlich schon, aber der Punkt ist, dass jede Pfadfindergruppe ein eigenständiger Verein ist, der zu dem Dachverband der Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreichs gehört. Eigentlich ist es die Aufgabe der Gruppenleitung dafür zu sorgen, dass die Leute ausgebildet sind.
*Um die Identität der interviewten Pfadfinder*innen zu schützen wurden die Namen in diesem Interview abgeändert.