Julia ist Studentin, aber Julia hat auch ein Geheimnis. Denn ihr Geld verdient sie unter anderem als Nobelescortdame. Sie begleitet also vornehmlich reiches Klientel zu Veranstaltungen, in Restaurants etc. und anschließend ins Hotelzimmer. Mittlerweile spricht sie offen über ihren Beruf. Doch das hat auch Konsequenzen. Neben skurrilen und schönen Erlebnissen spricht Julia von Steyr mit Moderatorin Lara Schimpf über mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz und die Frage „Warum wird man als Studentin eigentlich Sexarbeiterin?“. Hör dir den Beitrag dazu an:
M* war 2020 einer von rund 8.000 inhaftierten Personen in Österreich. Sein Urteil: siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Fünf Jahre auf Bewährung und ein Jahr als sogenannter Freigänger – also tagsüber in Freiheit leben, die Abende und Nächte hingegen müssen in der Strafanstalt verbracht werden. Insgesamt war M siebeneinhalb Jahre im Gefängnis, die fünf Jahre Bewährungsstrafe wurden dann aber erlassen, da er sich in den Jahren in Haft nichts zu Schulden kommen ließ. Als Freigänger konnte er sich ein Jahr auf sein zukünftiges Leben in Freiheit vorbereiten.
Heute führt M ein komplett anderes Leben, das er sich selbst nie hätte vorstellen können und erinnert sich an schwierige Zeiten, vor allem nach seiner Haft.
Warum warst du im Gefängnis?
Ich bin mit 29 ins Gefängnis gekommen. Meine Delikte waren mehrere Gewaltdelikte – schwere Körperverletzung, schwere Sachbeschädigung, Nötigung, Morddrohung.
Was geht einem durch den Kopf, wenn man das Urteil „Freiheitsstrafe“ hört?
Im Endeffekt ist man selbst schuld, wenn man ins Gefängnis kommt. Da kommt normal keiner rein, der unschuldig ist. Deshalb erwartet man es auch schon. Ich habe von Anfang an gewusst, dass das was ich mache strafbar und illegal ist – Deshalb macht es dann im Moment, wenn man da im Gericht sitzt und das Urteil hört, nicht viel mit einem. Es ist so, dass man in Österreich schon viel tun muss, um im Gefängnis zu landen, darum dachte ich mir: Es läuft ein-, zwei-, dreimal gut, aber irgendwann fliegt man auf. Wenn man zu einem kleinen Kind sagt: „Mach‘ das nicht, du wirst dich verbrennen“. Das Kind wird das nicht sofort verstehen, aber wenn man über 20 oder 25 ist, weiß man was man tut und wenn man eben nicht nach den Regeln lebt, ist man selbst schuld.
Wie ist deine Familie mit deinem Urteil umgegangen?
Ziemlich schwer – die waren sehr traurig. Aber meine Familie wusste schon früher, dass irgendwas falsch läuft. Als sie dann aber erfuhren, dass ich für mehrere Jahre ins Gefängnis muss, war das natürlich sehr schlimm für sie. Ich habe eine super Familie und ich glaube, dass es für sie schwerer war als für mich.
Findest du, du hast die Strafe verdient?
Auf jeden Fall. Es wäre sehr traurig, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich sie nicht verdient hätte. Wie gesagt: Jeder da drin hat es verdient dort zu sein. Klar gibt es ein paar Fehlurteile aber im Großen und Ganzen, ist da alles verdient.
Hattest du Angst als du abgeführt und ins Gefängnis gebracht wurdest?
Nein, Angst hatte ich keine. Aber man merkt das schon, dass es dann so weit ist. Wenn man ein-, zweimal festgenommen wird und wieder freigelassen wird und die Polizei schon sagt, dass es knapp wird und bald die U-Haft kommt, dann ist da schon was dran. Und irgendwann kam die U-Haft dann auch und dann die Freiheitsstrafe. Man weiß es also schon lange im Vorhinein, dass da irgendwann was passieren wird.
Im Grunde denkt man sich schon, dass das eigene Leben zerstört ist und macht sich Sorgen, um die ganze Lebenszeit, die man verliert, aber man macht ja trotzdem weiter. Rückschläge sind da, um sie zu überwinden, man kommt raus und macht weiter und versucht das beste aus seiner Situation zu machen.
Gab es während der Inhaftierung Lichtblicke?
Auf jeden Fall, sonst würde man das Ganze nicht aushalten. Der Halt von draußen ist wahnsinnig wichtig. Es war immer schön, Briefe von draußen zu bekommen, wenn Besuch da war oder mit jemandem zu telefonieren. Das war schon sehr wichtig! Aber man muss auch selbst was tun, an sich selbst arbeiten.
Wie kann man sich den Alltag im Gefängnis vorstellen?
Man steht um 7 Uhr auf und geht zum Frühstück, dann fängt man um 8 Uhr an zu arbeiten – vorausgesetzt man arbeitet, nicht alle wollen arbeiten. Dann ist eine Stunde Mittagspause und dann wieder Arbeit bis 14 oder 15 Uhr. Danach ist Abendruhe.
Hast du gearbeitet und wenn ja, als was?
Ja, ich habe gearbeitet. Ich war zuerst Hausarbeiter, da wäscht man die Wäsche, verteilt das Essen, reinigt das WC und die Duschen – solche Tätigkeiten. Danach war ich Gangreiniger, da reinigt man – wie der Name schon sagt – die Gänge oder macht zum Beispiel die Betten.
Man kann aus vielen verschiedenen Tätigkeiten aussuchen, das Angebot kommt immer auf die Strafanstalt an. Normalerweise kann man auch etwas machen, was in Richtung der eigenen Ausbildung geht. Zum Beispiel Mechaniker, Tischler, Schlosser… In manchen Gefängnissen gibt es auch Gärtner.
Stichwort Orange is the new Black: Ist das Leben im Gefängnis wie es in Film und TV dargestellt wird?
(lacht) Nein, auf keinen Fall. Das Gefängnis in Österreich kannst du nicht mit dem in Filmen oder Serien vergleichen. Ich sag es dir ehrlich: In Österreich ist das Gefängnis – verglichen mit Russland, USA, Thailand und so weiter – eigentlich wie ein Hotel. Natürlich fehlt dir deine Freiheit, aber wenn man kein Kinderschänder oder Vergewaltiger ist, hat man es nicht so schwer. Es sieht von außen böse aus, versteh mich nicht falsch, es sind auch böse Menschen dort, aber meistens kommt diese Angst vor Gefängnissen auch davon, dass man nicht weiß, was dort abläuft.
Und wie ist das mit der Gewalt im Gefängnis?
Ich selbst war Gott sei Dank nie Opfer von Gewalt und es ist auch nichts Alltägliches. Aber es passiert leider schon manchmal. Das Schlimmste was ich mitbekommen habe, war dass ein Insasse von einem anderen Insassen vergewaltigt wurde.
Kann man im Gefängnis Freunde finden?
Ich denke man kann überall Freunde finden, aber in dem Gefängnis, in dem ich war, war das nicht möglich. Ich habe mit niemandem mehr Kontakt, den ich dort kennengelernt habe. Aber zu ein paar Menschen, die ich dann in der Therapie nach meiner Haft kennengelernt habe, habe ich Kontakt.
Wie war das mit deiner Drogensucht im Gefängnis? Beziehungsweise wie hat deine Sucht angefangen?
Das mit den Drogen war bei mir ein klassischer Fall: Man probiert das eine, dann das andere und irgendwann habe ich über Kokain, Marihuana bis zu Speed oder MDMA alles genommen. Da rutscht man so einfach rein. Während der Haft ist es gut gegangen.
Ich war auf kaltem Entzug, das war die ersten Tage hart, aber das habe ich einfach gebraucht, um clean zu werden. Im Gefängnis kann man es sich aussuchen, ob man auf kalten Entzug gehen will. Es gibt dort Ärzt:innen, die einem Medikamente verschreiben, wenn man welche braucht.
Was war das Schwierigste, was du während deiner Haft bewältigen musstest?
Die Zeit, die nicht vergeht. Die ersten zwei Jahre waren noch erträglich aber nach den zwei Jahren wurde es sehr schwierig. Man kommt in diesen Alltag rein, weiß aber, dass man da die nächsten Jahre nicht rauskommt.
Inwiefern hast du dich während deiner Haft verändert?
Ich bin zu einem komplett anderen Menschen geworden. Mindestens 90% meines Seins haben sich verändert. Damals hätte ich mir niemals gedacht, dass ich so ein Leben wie jetzt führen werde: Ich habe meine eigene Familie, mache eine Ausbildung und habe meine eigene Wohnung.
Man muss es aber auch wirklich wollen. Natürlich hat mir die Therapie geholfen, aber es kommt sehr auf das eigene Mindset an. Das habe ich während der Haft bekommen und als Freigänger bekam ich Hilfe von Sozialarbeiter:innen, um eine Wohnung zu finden, einen Job und so weiter. Meine Freundin hilft mir heute noch, wenn ich Schwierigkeiten bekomme – auch psychisch.
Stichwort Freundin: Wie hat sie auf deine Vergangenheit reagiert?
Ganz normal, würde ich sagen. Oder sagen wir: Sie hat reagiert, wie es zu erwarten war. Sie war nicht begeistert, aber sie hat es akzeptiert und auch mich so akzeptiert, wie ich jetzt bin und auch wie ich einmal war.
Zum Thema Resozialisierung: Wie erging es dir, nachdem du deine Freiheit zurückbekommen hast? Was war das Allererste was du gemacht hast?
Als erstes bin ich feiern gegangen (lacht). Dieses Gefühl, wenn du wieder da draußen bist, ist unglaublich. Alles ist aufregend und man freut sich darauf, wieder ein Teil der Gesellschaft zu sein. Aber man kommt recht schnell drauf, wie schwer es tatsächlich ist. Man braucht, wie gesagt, einen Platz zum Schlafen, einen Job, Geld, ein Auto… Das macht einem dann schon Stress. Ich habe dann eine Drogen- und Gewalttherapie bekommen und wurde bei der Resozialisierung gut betreut – das hat es einfacher gemacht. Trotzdem muss diese Bewältigung vorrangig von einem selbst ausgehen.
Wie sind deine Erfahrungen mit anderen Menschen, denen du erzählst, dass du im Gefängnis warst? Wie sind deren Reaktionen?
Gemischt. Manchen ist es egal, manchen nicht und das ist auch ihr gutes Recht. Ich muss zugeben, dass es mir selbst egal geworden ist. Wenn man meine Vergangenheit akzeptiert, freue ich mich natürlich darüber, aber wenn man das nicht kann, soll es so sein. Dann sind das eben keine Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringe. Ich habe meine Leute, die mir wichtig sind und die mich so akzeptieren, wie ich bin.
Was würdest du deinem damaligen Ich heute sagen?
Da muss ich eigentlich schon viel früher anfangen. Es ist meistens so, dass Täter vorher das Opfer waren. Bei mir war das gleich: Ich war am Anfang ein Opfer und diese Wut und Aggression musste ich irgendwo abbauen und so wurde ich zum Täter. In Verbindung mit den Drogen wurde ich aggressiv, da hat ein falscher Blick, ein falsches Wort schon gereicht, damit ich auf 180 war. Und um auf deine Frage zurückzukommen, das würde ich meinem damaligen Ich sagen. Dass sich mit Gewalt einfach nichts lösen lässt und dass ich mir für meine Wut Hilfe suchen soll.
Bereust du deine Vergangenheit?
Nein. Die Taten bereue ich schon, also das was ich Menschen angetan habe, aber meine sonstige Vergangenheit nicht. Ich wäre nicht die Person, die ich heute bin, wenn irgendwas anders gelaufen wäre. Ich hätte vielleicht meine Freundin nicht kennengelernt, keine Familie gegründet – es passt also schon so wie es ist.
Wie offen gehst du mit deiner Vergangenheit um?
Schon offen. Gerade im privaten Bereich erzähle ich es nach einer Zeit oder erwähne es mal, aber für die Arbeit eher nicht, da rede ich nur darüber, wenn man nachfragt. Zum Beispiel, warum ich eine Lücke im Lebenslauf habe und was ich da gemacht habe, dann bin ich schon ehrlich und stehe dazu. Wenn man aber nicht explizit nachfragt, sage ich es nicht. Ich habe schon wo gearbeitet, wo mein Arbeitgeber nicht wusste, dass ich im Gefängnis war.
Du bist noch in Betreuung beziehungsweise Therapie. Wie war deine Erfahrung mit deinem Resozialisierungsprogramm?
In Bezug auf die Therapie ist die Resozialisierung echt gut gelungen. Die Therapie hat mir gut geholfen, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden. Man könnte es, denke ich, nicht allein schaffen. Ich kann mich noch erinnern, als ich die erste Nacht in Freiheit auf der Matratze in einer leeren Wohnung verbracht habe und wenn ich mir jetzt mein Leben ansehe, macht mich das stolz. Die Therapie allein hätte es nicht geschafft und ich allein auch nicht, da muss beides zusammenpassen, dass man aus dem Teufelskreis Kriminalität herauskommt.
Die wichtigste Komponente in der Resozialisierung war aber meine Familie. Die hat mir danach geholfen und war immer da. Sie sind auch sehr glücklich darüber, dass ich mein Leben wieder so auf die Reihe bekommen habe.
*Name von der Redaktion geändert. Quelle Bilder: Astrid Pichler.
Seit mehreren Jahren verwandelt sich Bernhard Ledinski zur Dragqueen Candy Licious. Was zuerst als Hobby begonnen hat, ist mittlerweile sein zweites Standbein geworden. Denn als Candy Licious wird Bernhard regelmäßig für Auftritte und Moderationen gebucht.
Wir haben mit Candy Licious über die Wiener Drag Szene gesprochen und spannende Einblicke über das Leben als Dragqueen erhalten. Dabei durften wir auch einen Blick unter das Make Up werfen.
Die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben einen epileptischen Anfall zu bekommen, liegt bei ganzen zehn Prozent. In Österreich leiden 80 Tausend Menschen an der Krankheit. Aufgrund dieser hohen Zahlen sollte dem Thema mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden: Wie soll man sich verhalten, wenn eine Person plötzlich einen epileptischen Anfall hat? Wie fühlt sich das an und in welchen Formen kann Epilepsie auftreten?
Verena Magenbauer hat seit ihrem 20. Lebensjahr Epilepsie. Die Krankheit schränkt sie nicht nur in ihrem Studium stark ein, sondern in ihrem gesamten Tagesablauf.
Feministische Organisationen, Vereine und Initiativen nehmen Themen wie die Ungleichheit der Geschlechter, Sexismus und die Diskriminierung von Frauen seit jeher auf. Denn: „Wir sind noch nicht zufrieden“, lautet das Motto der Dritten Welle der Frauenbewegung. Auch wenn es um die Tabuisierung der weiblichen Sexualität geht, gibt es noch einiges an Aufholbedarf. Sofia Surma, Bettina Weidinger und Bettina Steinbrugger sprechen in unabhängig voneinander geführten Interviews über ungeklärte Fragen, Mythen und Themen der Sexualität, die für die meisten außerhalb der Komfortzone liegen. Dabei sind sie sich nicht immer einer Meinung.
Was sind Themen, über die ungern offen gesprochen werden?
Sofia Surma: „Ich merke auf jeden Fall, dass es ganz vielen Frauen einfach unangenehm ist, über ihr Geschlechtsteil, aber auch über die weibliche Lust und die weibliche Sexualität zu sprechen. Es beginnt schon mal damit, dass die meisten Frauen überhaupt nicht wissen, wie sie sich da unten nennen sollen. Im täglichen Sprachgebrauch nutzen die meisten eigentlich das Wort Vagina und nicht das Wort Vulva. Und das Wort Vagina bezeichnet nur das Loch, wobei für die weibliche Sexualität eigentlich all das, was da rundherum ist, wichtig ist: Die inneren und äußeren Vulva-Lippen, die Klitoris, der Venushügel. Und wenn wir immer nur davon reden, dass es da unten etwas gibt, wo man was reinstecken kann, zeigt das irgendwie auch, dass in unserer Gesellschaft ein sehr starker Fokus auf den Penis des Mannes in der Sexualität gesetzt wird.
Bei mir zum Beispiel war Ausfluss ein sehr großes Thema. Dass man abends sein Höschen auszieht und es nicht komplett frisch gewaschen aussieht. Ich habe es dann immer schnell zerknüllt und weggegeben, damit das ja keiner sieht, weil ich mich dafür geschämt habe. Aber eigentlich ist das eine ganz natürliche Körperfunktion, ohne der eine Schwangerschaft zum Beispiel gar nicht möglich wäre. Der erste Schritt ist dann eben, zu reflektieren und sich zu fragen „Warum mache ich das?“ und dann ist es natürlich gut, sich mit jemanden darüber auszutauschen und zu erfahren, dass man da nicht allein ist, sondern dass es ganz normal ist. Das war für mich richtig erleichternd!“
„Viva La Vulva! Lasst euch nicht von diesem Tadel zurückdrängen und einschüchtern. Seid mutig, traut euch und lasst euch nicht beirren, weil meist hat man selbst schon die richtige Intuition!“
— Sofia Surma
Die Verkürzung der inneren Schamlippen ist mittlerweile eine der häufigsten Schönheitsoperationen. Von wo kommt die negative Einstellung zum eigenen Geschlechtsteil?
Surma: „Das kommt daher, dass Frauen oft gar nicht wissen, dass es ganz normal ist, wenn man da unten vielleicht nicht so ausschaut, wie die „Pornovulva“. Mit unserer Plattform Viva La Vulva wollen wir auch zeigen, dass es viel mehr Diversität gibt und man sich nicht dafür schämen muss, wenn man zum Beispiel hervorschauende, innere Vulva-Lippen hat oder dass es ganz normal ist, wenn man da unten nicht ganz Haarfrei ist. Abgesehen von Pornos geht das ja auch weiter in die Bildung, wo es in Schulbüchern ja immer nur diese Abbildung vom Querschnitt des Bauches und der Gebärmutter gibt. Wenn es eine genauere Abbildung der Vulva gibt, ist es meist nur ein Dreieck mit einer Öffnung in der Mitte. Ganz früh werden wir mit Bildern berieselt und konfrontiert, die uns sagen: Es soll da unten eigentlich nichts sein, außer ein Schlitz.“
Bettina Weidinger: „Spüren und sich mögen hat etwas mit Berührung und Beschäftigung zu tun. Also je mehr sich ein Mensch mit dem eigenen Genital beschäftigt, desto mehr ist dieses Körperteil auch akzeptiert. Die falsche Darstellung des Genitals, etwa in Schulbüchern, ist sicher ein Problem. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass auch die richtige Darstellung des Genitals nicht unbedingt Klarheit schafft. Viele Menschen haben richtige biologische Informationen erhalten und können sie trotzdem nicht memorieren, weil diese Informationen nicht so gegeben wurden, dass sie mit der Praxis verknüpft werden konnten.
Außerdem stellen die Fähigkeiten, den eigenen Körper zu spüren und sich selbst körperlich zu mögen, eine stabile Basis dar, um sich von Außeneinflüssen nicht so sehr beeindrucken zu lassen. Diese Fähigkeiten können Menschen aber nur dann etablieren, wenn sie von klein auf ausreichend in Bewegung sind und viele sensorische Inputs bekommen. Das gilt für den gesamten Körper, ebenso für das Genital. Wenn Menschen also schon recht früh vermittelt wird, dass das Geschlechtsorgan etwas Grausliches ist und man sich dort nicht berühren darf und zusätzlich alle Bewegungen, die das Becken machen könnte, verboten sind, weil das „unanständig“ ist, dann ist es schwierig, einen guten Bezug zu dieser Körperregion zu entwickeln. Demnach ist es nicht verwunderlich, wenn es als Objekt betrachtet wird, das operativ verändert werden sollte.
Bettina Weidinger – Leiterin des sexualpädagogischen Lehrgangs am österreichischen Institut für Sexualpädagogik, Sexualberaterin, Supervisorin
Auch in den Medien werden stilisierte Körper gezeigt und Vorgaben gemacht, wie Menschen auszusehen haben. Sogar in ganz normalen Zeitschriften, die sich selbst als „reflektiert“ bezeichnen, gibt es Styling-Tipps und damit Normvorschriften. All das ist fragwürdig und natürlich beeinflusst dies Menschen. Intimrasur wurde ja nicht trendig, weil es in der Natur der Sache liegt, sondern weil irgendwann diese Normvorgabe so häufig vermittelt wurde, dass sich behaarte Personen unwohl fühlten.“
Von wo kommt es, dass die Sexualität so ein Tabu-behaftetes Thema ist?
Betina Steinbrugger: „Viel liegt natürlich in der Familie und im kollektiven Gedächtnis, welches über Jahrzehnte so weitergegeben wird. Wir sehen oft, dass beispielsweise die Einstellung, die die Mutter zu ihrer eigenen Menstruation hat, auch weitergegeben wird. Wenn das in der Familie schon so ein Tabuthema ist und nicht offen und entspannt darüber geredet wird, dann wird diese negative Einstellung auch an junge Mädchen weitergegeben.
Viele Frauen empfinden ein großes Schamgefühl rund um alles, was mit dem Intimbereich oder der Menstruation zu tun hat. Mit diesem Schamgefühl und Unwissen geht dann auch oft eine negative Einstellung zu ihrem Körper einher und wenn man negativ seinem Körper gegenüber eingestellt ist, will man folglich nicht gerne über etwas reden, was seinen Körper betrifft. Außerdem hat das negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein“
Bettina Steinbrugger – Gründerin der erdbeerwoche: umweltfreundliche Periodenprodukte & Aufklärungsarbeit mit dem Schulprojekt Ready For Read.
Surma: „Frauen werden generell eher dazu angehalten, nicht so offen über ihre eigene Sexualität und über ihre eigene Lust zu reden und das hängt damit zusammen, dass in unserem gesellschaftlich-strukturellen Denken immer der Mann derjenige ist, der im Zentrum der Lust steht. Immer ist es der Mann, der die Frau erobert, der den Akt initialisiert und der auch auf die Frau zukommt und darüber redet.“
Haben Männer durchschnittlich einen positiveren Körperbezug zu Ihrem Geschlecht als Frauen?
Surma: „Die meisten Frauen schauen sich selbst unten erst relativ spät so richtig an. Man muss sich als Frau halt schon ein bisschen verrenken, um sich oder auch andere gescheit anschauen zu können. Männer haben da eine etwas leichtere Beziehung zu ihrem Penis, weil sie schon früh damit beginnen, sich anzugreifen, wenn sie zum Beispiel aufs Klo gehen. Und Männer dürfen, beziehungsweise sollen auch mit ihrem Penis herumspielen. Frauen machen das nicht so stark.“
Weidinger: „Das häufig gebrachte Argument, dass Burschen einen besseren Bezug zum Genital herstellen könnten, weil es sichtbar ist, sehe ich als Klischee. Der positive Bezug zum eigenen Genital wird durch erforschende Eigenberührungen, die vor allem im Kleinkindalter stattfinden, geprägt. Da geht es darum, was erfühlt und gespürt werden kann. Natürlich ist auch das Schauen interessant. Kinder betrachten sich auch gerne und Mädchen nehmen dafür einen Spiegel. Die Basis ist aber immer die Berührung und das Spüren.“
Was gibt es für Mythen in Bezug auf die weibliche Sexualität, die zum Teil immer noch präsent sind?
Weidinger: „Eine der größten Mythen ist, dass Frauen weniger sexuelle Lust verspüren als Männer. Wird diese Botschaft von klein an vermittelt, ist es auch wirklich etwas schwierig, einen positiven Lustbezug zu erreichen. Erstaunlich ist, dass die meisten Mythen die weibliche Sexualität als weniger wert, weniger feurig, schmerzhaft – am schlimmsten ist wohl der Satz „das erste Mal tut weh“ – und vor allem weniger aktiv abstempeln.
Wenn der Mythos, dass Geschlechtsverkehr für die Frau oft schmerzhaft ist, als „Normalität“ akzeptiert und der Schmerz einfach hingenommen wird, kann das zu Folge haben, dass der Körper sich das einprägt und von da an in der unangenehmen Erwartung eines möglichen Schmerzes, anspannt. Das führt beim Geschlechtsverkehr dann wiederum zu Schmerz. Manche Frauen kommen auf diese Weise in eine Situation, wo Sexualität mit einer anderen Person mit unangenehmen Schmerzen verbunden wird. Es ist nicht verwunderlich, wenn dann auch irgendwann die Erregung nicht mehr spürbar ist.“
Steinbrugger: „Es war gerade erst letztes Jahr auf einer Messe. Da haben wir erklärt, wie eine Menstruationstasse funktioniert und eine erwachsene Frau hat gefragt: „Ja, aber kann ich da überhaupt noch aufs Klo pinkeln gehen währenddessen? Oder pinkelt man dann in die Tasse?“, weil sie nicht wusste, dass es da zwei Öffnungen gibt. Solche Mythen und so ein Unwissen, das gibt es immer noch, auch bei Erwachsenen.
Auch Werbungen spielen eine große Rolle: Über Jahrzehnte wurde uns versucht, weiß zu machen, dass Menstruationsblut ja nicht rot, sondern blau sein sollte. Solche verkehrten Bilder und Messages der Werbeindustrie vermitteln uns damit, dass prinzipiell alles schmutzig ist, was da unten passiert und es darum geht, alles möglichst steril, möglichst hygienisch und sauber zu halten und mit Duft zu behandeln. Alles andere ist nicht normal und ekelig. Und das schafft natürlich auch ein Gefühl für viele Frauen, dass das Menstruationsblut eigentlich etwas Schmutziges und Grausliches ist und man möglichst nicht in Berührung damit kommen soll.“
Weidinger: „Ein Tabu verhindert die offene Kommunikation über das, was viele betrifft und fördert damit zeitgleich das Aufkommen und Determinieren von Irrtümern. Das Tabu bewirkt, dass zwar Extravagantes und Außergewöhnliches präsent wird, aber das „Banale“ wenig besprochen wird. Hinzu kommt, dass das Nichtbesprechen des Themas automatisch dazu führt, dass Fehlinformationen, Gesellschaftskonstrukte und Rollenzuschreibungen bestehen bleiben – und als Norm erachtet werden. Schlussendlich wirkt sich die Negativierung des Körpers, wie auch die Negativierung sexueller Erregungsgefühle einschränkend auf Menschen aus.“
Surma: „Wir leben in einer verrückten Zeit, in der wir umgeben sind mit Sex: halbnackte Menschen auf Parfums, Körper auf Plakaten und Werbungen, Sex als Währung, … und wenn man sich das anschaut, könnte man meinen, wir sind so offen wie noch nie. Gleichzeitig gibt es aber immer noch so viel rückschrittliches Denken, wenn es um echten Sex geht, um Beziehungen, um sexuelle Freiheit und Tabuthemen. Wie wir unseren Körper sehen, was wir verstecken, wofür wir uns schämen und wie wir mit unseren Körperfunktionen umgehen, hat alles ganz stark damit zu tun, wie wir uns als Frauen in der Gesellschaft sehen. Die Tabuisierung hängt eben genau damit zusammen, wie wir in der Gesellschaft mit Feminismus umgehen und wie gleichberechtigt wir sind. Gleichberechtigung ist nicht nur beim Arbeitsplatz ein Thema, sondern auch zu Hause.“
Steinbrugger: „Eine Tabuisierung ist ein Nährboden für Falschinformation und Mythen. Das kann in manchen Fällen sogar zu gesundheitlichen Problemen führen, wenn Frauen etwa nicht wissen, wie ihre Vulva aussieht und funktioniert, oder dass ein Tampon nicht einfach im Körper verschwinden und sich auflösen kann oder wenn man nicht weiß, wann ein Tampon spätestens gewechselt werden muss.“
Wie kann sich diese Einstellung gesamtgesellschaftlich ändern?
Surma: „Es ist wichtig, Menschen auf einem individuellen Level anzusprechen. Wenn man im Internet recherchiert, steht da auch oft ganz viel Blödsinn und das macht einen oft nur mehr Sorgen und man fühlt sich auf sich gestellt. Um Veränderungen in unserer Gesellschaft einzufordern, müssen wir eigentlich aktivistisch sein. Das sind strukturelle Probleme, die man ansprechen und sichtbar machen muss. Genauso wie wir sagen: „wie viel verdienen Männer – wie viel verdienen Frauen“, sollte man auch mit dem Orgasm-Gap umgehen, denn besonders bei heterosexuellen Paaren ist es so, dass Männer viel häufiger zum Orgasmus kommen, als Frauen. Das muss man thematisieren, sonst ändert sich da nichts.“
Weidinger: „Es geht nicht darum, mit allen Menschen über die eigene Sexualität zu sprechen. Es geht eher um ein gesellschaftliches Sprechen: Welche Informationen werden weitergegeben? Inwiefern gibt es ein Bewusstsein dafür, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden sollten, um eine positive sexuelle Entwicklung zu ermöglichen?“
Steinbrugger: „Diese Einstellung kann sich nur ändern, wenn möglichst viele Menschen einen Beitrag zur Aufklärung leisten. Auch die Medien können durch eine konstruktive Berichterstattung über das Thema zu einer Enttabuisierung beitragen. Es sollten besonders junge Menschen angesprochen werden, weil die Pubertät die Zeit ist, in der sich viele Einstellungen verfestigen und herausbilden. Ein auf Fakten und Humor basierender Ansatz ist ganz wichtig, um ein Tabuthema aufzubrechen.“
„Redets‘ drüber! Einfach trauen, Fragen zu stellen, die man sich vielleicht noch nicht getraut hat, zu stellen. Darüber zu reden ist der erste wichtige Schritt, um das Tabu aufzubrechen.
– Bettina Steinbrugger
An wem sollte es eigentlich liegen, diese Themen aufzuzeigen und aufzuklären?
Weidinger: „Menschen sind ab der Geburt sexuelle Wesen und bleiben es bis zum Tod. Aufklärung in dem Sinn gibt es nicht. Vielmehr geht es bei Kindern/Jugendlichen zwischen 0 und 18 Jahren um eine sexualpädagogische Begleitung, wo alle Erwachsenen, die mit diesen Kindern/Jugendlichen zu tun haben, aufgefordert sind, gemäß ihrer Rolle zu agieren: Die Förderung von Bewegung und sensorischen Inputs, Gesprächsangebote, der Besuch bei einer Ärztin, einem Arzt und vieles mehr sind Teil umfassender sexualpädagogischer Entwicklungsbegleitung. Eltern haben dabei eine komplett andere Aufgabe als Lehrkräfte. Jede Person kann etwas dazu beitragen, um das respektvolle Gespräch über Sexualität zu fördern, um eine positive Haltung gegenüber dem Körper zu vermitteln.“
Surma: „Das ist schon etwas Politisches. Natürlich sind da Vereine, NGOs und Kollektive beteiligt, aber die Politik setzt da die Rahmenbedingungen. So, wie für die vielen anderen Sachen ist die Politik dazu angehalten, dass sie zu der Gleichstellung und Gleichberechtigung beitragen. Eine unserer großen Forderungen an die Politik war, die Steuer auf Periodenprodukte und Hygieneprodukte zu senken.“
Regierungsprogramm der ÖVP und Grüne 2020:
„Senkung des USt-Satzes für Damenhygieneartikel“
Quelle: Bundeskanzleramt Österreich
Die Umsatzsteuer auf Damenhygieneprodukte wurde ab 1. Jänner 2021 von 20 Prozent auf zehn Prozent gesenkt. Produkte wie Binden, Tampons und Menstruationstassen fallen ab diesem Jahr also nicht mehr unter die Kategorie „Luxusartikel“.Bipa bietet bei kurzfristigem Bedarf an der Kassa jetzt kostenlose Tampons und Binden an und auch von der Regierung unabhängige Organisationen und Vereine ergreifen die Initiative: Caritas stellt obdachlosen Frauen Binden und Tampons zur Verfügung und Vereine wie Viva La Vulva und erdbeerwoche greifen tabuisierte Themen auf und versuchen damit, ein gesellschaftliches Bewusstsein für Diversität und Sexismus zu schaffen, sowie Aufklärungsarbeit zu leisten und Tabus entgegenzuwirken.
Auch an anderen Orten der Welt bewegt sich einiges: In Australien, Kanada, Kenia, Irland, Indien, sowie in einigen US-Staaten gibt es keine Tampon-Steuer. Im November 2020 beschloss das schottische Parlament, Menstruationsartikel kostenlos zur Verfügung zu stellen und in Neuseelands Schulen werden gratis Damenhygieneprodukte zur Verfügung gestellt.
Wir sind also auf dem richtigen Weg – das Ziel ist jedoch noch nicht erreicht.