Ein Leben für das Radio – Ein Portrait über Martina Rupp
Von Eva E. Zecha
Im August 2021 ist eine der bekanntesten weiblichen Radiostimmen Österreichs in Pension gegangen. Martina Rupp hat populären Sendungen wie dem Ö3-Wecker oder „Guten Morgen am Sonntag“ ihre Stimme verliehen. In der ORF-Informationssendung „Konkret“ hat sie Konsument:innen über aktuelle Themen zu Verbraucherschutz und Zuseher:innen-Fragen aufgeklärt. In diesem Interview erzählt Martina Rupp von ihrer 42-jährigen Tätigkeit beim ORF.
Als 18-Jährige begann Martina Rupp ihre Karriere beim Radio, und wurde sogleich mit der geschlechterstereotypen Arbeitsatmosphäre der frühen Achtzigerjahre konfrontiert. „Ich habe immer ganz klar gesagt, was ich nicht so gut finde und dass sie das bitte ändern sollen.“, „Ich war mit 18 genauso drauf wie jetzt. Genauso feministisch.“, sagt Martina Rupp heute, und dass sie mit ihrer Einstellung damals bei den männlichen Kollegen ordentlich aneckte.
Notorisches Unterbrechen, das Rauchen während Redaktionssitzungen, untergriffige Bemerkungen gegenüber Frauen. Bei den gesellschaftlichen, wie auch den rechtlichen Rahmenbedingungen, hat sich in den vergangenen 40 Jahren, nicht zuletzt durch die beherzten Initiativen von emanzipierten Persönlichkeiten wie Johanna Dohnal, oder Gesetzesänderungen wie die Einführung des sogenannten „Pograpsch-Paragrafen“, viel bewegt. Aber auch bei den Fernsehsendern hat ein neues Frauenbild Einzug gehalten, „und das ist durchaus ein Erdbeben, weil früher musstest du 35 Jahre jung, 1,75m groß, 55 Kilo schwer sein. Oder du warst der Typ ‚goschert, aber lustig‘. Nein, das hat sich angepasst.“, so die ehemalige Moderatorin. Dass das optische Erscheinungsbild im Fernsehbereich nach wie vor wichtig ist, sei nicht von der Hand zu weisen, aber Faktoren wie Kompetenz und Erfahrung haben jetzt, vor allem für Frauen, mehr Gewicht bekommen.
Die Anfänge
Ihren Werdegang beim ORF hat Martina Rupp nie bereut. Der Grundstein ihrer Karriere wurde mit der Vertonung eines Hörerbriefes gelegt, den die damals 15-Jährige eingeschickt hatte. Über das Zeilenhonorar freute sie sich seinerzeit gewaltig. Heute sagt die 60-Jährige über dieses Erlebnis: „Radio war für mich tatsächlich das Größte. Das größte Medium, die größte Kunstform, das Spannendste … Dass mir der Einstieg gelungen ist, und dass ich mich halten und weiterentwickeln konnte, hat mich so beglückt in meinem Leben.“
Das redaktionelle Handwerk lernte die junge Studentin beim Radiosender Ö3. Dazu gehörten unter anderem das Schneiden auf analogen Bandgeräten, sowie Interviewführung und Sprechtechnik. Das Dreifach-Studium Publizistik, Politikwissenschaft und Pädagogik hängte die engagierte Sprecherin bald darauf an den Nagel, und übernahm die Leitung über die von ihr moderierte Jugendsendung „Zickzack“. ORF-Persönlichkeiten wie Peter Rapp, oder Künstler wie der junge Falco zählten zu ihren beruflichen Wegbegleitern. Martina Rupp erinnert sich: „Am Anfang, als ich bei Ö3 begonnen habe, beim ‚Treffpunkt‘, waren alle ganz jung. Ich habe den Falko interviewt und war natürlich wahnsinnig unsicher, und er war noch viel unsicherer. Alle standen ganz am Anfang.“
Auch auf den Zug der rasanten technologische Entwicklung, der in der Unterhaltungsbranche stattfand, sprang Martina Rupp auf: „Ich war die erste Frau in einem DJ-Studio in Österreich, und die erste, die CDs gespielt hat.“
Rückblick und Ausblick
Die letzten sieben Jahre moderierte Frau Rupp sonntags den ‚Ö3-Wecker‘. Wo andere sich darauf freuen, gemütlich ausschlafen zu können, begann der Tag für die Moderatorin bereits um 3:30 Uhr. Dazu sagt die nunmehrige Pensionistin: “In meinem Alter ist das eigentlich furchtbar. Trotzdem habe ich mich dabei ertappt, wie ich dort stehe, einen Mix mache und mir denke: Es war so auf den Punkt genau, und so richtig. Das ist es, das ist mein Job! … Mich hat es wahnsinnig glücklich gemacht. Ich würde es jederzeit genauso wieder machen.“
Über die Zukunft des Radios macht sich die langjährige Medienschaffende keine Sorgen. Schon vor 40 Jahren, mit dem Aufkommen der ersten Musikvideos und MTV wurde der Abgesang auf das Radio gestartet. Warum es nach wie vor das Radio braucht, erklärt Martina Rupp folgendermaßen: „Unsere Hörer brauchen verlässliche Begleiter in den Tag. Brauchen Menschen, die sich mit aktuellen Ereignissen beschäftigen, diese einordnen und kommentieren. Die wenigsten Leute kommen dazu, sich Pressekonferenzen anzuhören und alle Kommentare dazu durchzulesen. Die Hörer brauchen Hintergrundinformationen. Und in der Rushhour beim nach Hause fahren erzählt man, wie sich das Thema, das wir im Wecker angeschnitten haben, untertags entwickelt hat.“
Für ihre persönliche Zukunft nach dem Radio bleibt Martina Rupp dem auditiven Medium erst einmal erhalten, denn sie spricht aktuell für eine Informations-Kampagne über Gürtelrose Podcasts ein, die online für jedermann und jederfrau abrufbar sind. Dieses Thema ist für die ehemalige Moderatorin eine Herzensangelegenheit, da sie selbst daran erkrankt ist und bei der Zielgruppe der über 50-Jährigen ein Bewusstsein für diese Krankheit schaffen möchte. Darüber hinaus, genießt Frau Rupp nun nach Herzenslust ihre viele Freizeit. Martina Rupp zu ihren Plänen: „Es gibt noch ein tolles Projekt, vielleicht mache ich das doch. Aber nur mehr das, was ich wirklich kann und mag.“
Nachhaltigkeit, Ästhetik, Natur, die schönen Dinge, die ihr im alltäglichen Leben ins Auge fallen. Rund um diese Themen dreht sich der Instagram Account von Lena Höller. Sie bezeichnet sich selbst ungerne als Influencerin, auch der Begriff Content Creatorin ist ihr suspekt. Für Lena fühlt sich Instagram nicht nach Arbeit an, das Teilen und Kommunizieren ihres Contents ist für sie zu einem Hobby geworden. Einem Hobby mit Bezahlung.
Vor ein paar Monaten ist die 24-Jährige nach Wien gezogen, seit etwa einem Jahr klettert die Follower:innenzahl auf ihrem Instagram-Kanal nach oben, etwa zwei Jahre ist es her, seit sie ihre erste bezahlte Kooperation eingegangen ist.
Im Gespräch erzählt Lena wie es sich anfühlt, von Fremden im Internet bewundert zu werden, wie sie mit dem Verschwinden der App umgehen würde und gibt einen Blick hinter die Kulissen einer Person, die es tatsächlich geschafft hat, ihr Hobby zum Beruf zu machen.
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Weißt du wie du ewig lebst? Sei ein Arschloch.
Ein Thema, das gerne totgeschwiegen wird. Ein Thema, das uns alle betrifft. 2020 sind in Österreich 91.599 Menschen verstorben, das sind rund 250 am Tag.
Macht Glaube es für die Hinterbliebenen einfacher? Wie kommt man dazu, Bestatter zu werden? Was sind die kuriosesten Wünsche der Hinterbliebenen, für den letzten Abschied, eines geliebten Menschen?
Marvin Bauer ist 29 Jahre alt, seine Entscheidung Bestatter zu werden, traf er bereits mit 16 Jahren. Im Gespräch erzählt er von seinen Ängsten, seinem Glauben und jenen Fällen, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben.
Empfindest du das Thema Tod in der Gesellschaft als ein Tabuthema?
Gesamtgesellschaftlich ist es immer schon schwierig gewesen, aber ich glaube heute haben jüngere Generationen einen anderen und einen etwas gelasseneren Umgang mit dem Thema. Personen aus älteren Generationen sind häufig noch religiöser geprägt und reden nicht so gerne und nicht so häufig darüber.
Als ich nach Österreich gekommen bin, insbesondere nach Wien, hatte ich viel über die romantische Beziehung der Wiener:innen zum Tod gehört und gelesen, aber persönlich erlebt muss ich sagen, habe ich sie bisher nur in vereinzelten Fällen. Ich glaube, auch hier in Wien ist es wie in vielen Gegenden, der Umgang mit dem Tod hängt von der Person selbst ab.
Was hat man für Lebenserfahrungen gemacht? Welche Begegnungen hat man selbst schon mit dem Tod gemacht? Macht man sich grundsätzlich Gedanken über den Tod? Wie steht man selbst dem Thema Tod gegenüber? Sieht man den Tod als Teil des Lebens oder als etwas Unabdingbares, dass man möglichst lange vor sich herschieben möchte?
Ich glaube den Umgang mit dem Tod kann man gar nicht auf eine ganze Gesellschaft pauschalisieren.
Hast du schon einmal jemanden aus deinem persönlichen Umfeld bestattet?
Aus meinem persönlichen Umfeld ja, aber nicht aus dem Nahbereich. Ich habe bereits Verwandte von Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen bestattet. Ich habe selbst bei der Bestattung einer Kollegin, die 2016 verstorben ist, mitgewirkt.
Was spricht für dich dafür oder dagegen, jemanden aus deiner eigenen Familie zu bestatten?
Das würde immer auf die Umstände ankommen. Würde jemand aus meinem nahen familiären Umfeld sterben, wäre es mir bei gewissen Teilen ein Bedürfnis oder ich würde sogar darauf bestehen, es selbst zu machen.
Auf der anderen Seite gibt es auch Dinge, die ich bei Familienmitgliedern nicht machen würde, weil ich denke, dass das für den Trauerprozess nicht förderlich ist. Das wäre zum einen die Abholung des Leichnams, sei es bei einem unnatürlichen oder natürlichen Tod. Und das andere, das ich nicht machen würde, ist die Durchführung der Trauerfeier. Wenn man für die Beerdigung auf dem Friedhof ist, will man nicht arbeiten.
Wie schützt man sich emotional, um nicht jeden Fall an sich herankommen zu lassen?
Mir hat immer eine aufgeschlossene Einstellung zum Tod und die Tatsache, dass ich mich schon immer für makabere Dinge interessiert habe, geholfen. Ich glaube, das ist den meisten Bestattern gemein. Aber auch wenn man nicht in gewisser Weise einen „Potscher“ in die Richtung hat und zimperlicher ist, ist es möglich in dem Beruf zu arbeiten, ohne mit Verstorbenen oder trauernden Angehörigen zu interagieren.
Ich habe das bereits während meiner Berufsschule in Deutschland erlebt, manche Schüler:innen meinten, sie würden sich psychologische Hilfe wünschen. Diejenigen sind nicht lange in dem Beruf geblieben.
Der Vorteil, den man als Bestatter:in hat, ist, dass man erst dann an den Schauplatz kommt, wenn der Tod schon eingetreten ist. Das bedeutet, im Gegensatz zu Personen, die in der Palliativpflege arbeiten, haben Bestatter:innen nicht das Problem, dass sie eine Beziehung zu den Personen aufbauen.
Genauso wenig entsteht in den meisten Fällen eine Beziehung zu den Angehörigen. Das sind Menschen, die ich in dem Moment in dem sie zur Tür hereinkommen das erste Mal sehe. Vielleicht noch einmal auf der Beerdigung und dann nie wieder.
Gibt es Bestatter:innen die psychiatrische Betreuung bekommen?
Psychiatrische Betreuung zu erhalten ist auf jeden Fall kein Ausschlusskriterium. Es ist nicht aber auch nicht notwendig, jede Person in diesem Betrieb in die traumatisierendsten Situationen zu begeben.
Beispielsweise sagen manche, grundsätzlich ist es in Ordnung, mit den Verstorbenen in Kontakt zu kommen. Wenn es allerdings in extreme Richtungen geht, beispielsweise jemand, der bereits lange Tod war, bevor er oder sie aufgefunden wurde, wäre es nicht sinnvoll oder notwendig, eine sensible Person hinzuschicken. Viele sagen auch tote Kinder gehen gar nicht, das sind häufig jene, die selbst Eltern sind. Und natürlich gibt es Leute, die mit Gerüchen oder visuellen Sinneseindrücken nicht klarkommen.
Gibt es Fälle, die du persönlich ablehnen würdest, weil es dir zu extrem wäre?
Ich persönlich habe meine Grenze noch nicht gefunden. Ich habe sowohl Babys, Kleinkinder, Kinder, sei es jetzt auf einen natürlichen Tod oder bei einem Unfall, Tode im Straßenverkehr bestattet. Ich habe bereits Verstorbene abgeholt, die ein halbes Jahr in der Wohnung gelegen sind, bevor sie entdeckt worden sind. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, in Zukunft einen Auftrag zu bekommen, den ich ablehnen würde.
Da du in diesem Bereich sehr abgehärtet zu sein scheinst, hast du Angst vor deinem eigenen Tod?
Vor dem Tod nicht, nein. Vor dem Prozess, der davor ist, schon.
Wovor hast du Angst?
Hauptsächlich vor dem Vergessen. Nicht vor dem vergessen werden, sondern davor, dass ich irgendwann nicht mehr weiß, wer ich bin, wer meine Familie ist, was ich mein Leben lang gemacht habe und in schlimmsten Stadien, wo ich bin.
Ich habe das schon gesehen und das ist das einzige, wovor ich wirklich Angst habe. Demenz.
Ich finde das ist eine furchterregende Vorstellung. Wir sind nun mal Wesen, die nur assoziativ und in Form von Erinnerungen mental mit der Umwelt interagieren können und wenn das nicht mehr gegeben ist, ist man nur noch eine leere Hülle, die vor sich hin existiert, weil unsere Gesetzgebung oder die Familie, die dann verantwortlich ist, es nicht übers Herz bringt, dieses Leben zu beenden. Man ist im eigenen Körper gefangen und kann nicht raus.
Woran glaubst du?
An gar nichts.
Glaubst du, dass Glaube es für die Hinterbliebenen leichter macht, mit dem Tod umzugehen?
Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, das ist seit jeher schon der Grund und Sinn von Religionen oder einem spirituellen Glauben gewesen, dass man sich Dinge begründen kann, die wir als Mensch nicht begreifen können.
Ich glaube der Sinn dahinter ist es, sich zum einen erklären zu können und zum anderen, wenn man das ein bisschen zynisch formulieren kann, schön zu reden, was nach dem Tod passiert. Außerdem ist ein großer Aspekt der Religionen die Gemeinschaft, die in schwierigen Lebenssituationen unterstützend wirken kann. Denn ohne Glaube kann man sich den Tod schwer erklären, wenn man ihn nicht erlebt hat.
Es ist, als ob jemand sagen würde „Wir müssen reden.“, dann wird man nervös und weiß nicht, was auf einen zukommt. Aber wenn man ungefähr weiß, worum es geht, ist man demgegenüber ruhiger eingestellt.
Für die Hinterbliebenen ist es auch in dem Sinn leichter, dass die Gläubigen über die liturgische Vorgabe der römisch-katholischen Kirche Bescheid wissen. Wie eine Trauerfeier abläuft, welche Lieder dort gespielt werden, welche Psalmen oder Bibelstellen dort aufgesagt werden können. Einen Pfarrer zu haben, der das mit den Hinterbliebenen zusammen macht, hilft natürlich. Genauso wie Gottesdienste oder von der Religion begründete Trauertage, zum Beispiel Allerheiligen.
Gibt es Fälle, die dir nahe gehen oder kannst du dich explizit an einen Fall erinnern?
Es gibt ein, zwei Fälle, die mir nahe gegangen sind, in der Form, dass ich es nicht direkt wieder aus dem Gedächtnis löschen konnte.
Das ist zum einen ein Autounfall, bei dem ein 11-jährges Kind ums Leben gekommen ist und das andere ist ein 21- oder 22-jähriges Mädchen gewesen, das auf brutalste Art und Weise von ihrem Freund erstochen wurde. Da war ich dabei, die ganzen Wunden zu versorgen, weil die Familie noch einmal in den Sarg reinschauen wolle. Die Messerstiche mussten vernäht und überschminkt werden. Das ist mir schon ein bisschen nachgegangen.
Man muss sagen, „Gott sei Dank“ sind 95% der Fälle, die wir bearbeiten, Menschen, die in einem Alter waren, in dem man sagen kann, da darf man sterben.
Wieso hat dich der Tod des 11-jährigen Kindes mehr getroffen als der von anderen Kindern?
Es war hart zu sehen; zu sehen, wie schnell es gehen kann.
Die Familie war zu viert im Auto, die anderen drei haben keinen Kratzer abbekommen und das Kind, das hinten gesessen ist, ist auf furchtbare Art und Weise zu Tode gekommen.
Zum einen war es so unerwartet, zum anderen hat mich die Familie beim Beratungsgespräch sehr überrascht. Ich hätte mir vorgestellt sie sind völlig aufgelöst, die ganze Zeit über in Tränen, aber so war es nicht. Die Familie ist absolut gefasst und ruhig bei mir gesessen. Ich schätze, das war aufgrund des Schockzustandes. Der Unfall war zu dem Zeitpunkt vier Tage her.
Und zum anderen ist mir auch die Bestattung selbst und die Vorbereitungen dafür im Gedächtnis geblieben. Der Sarg war weiß lackiert, der wurde mit Fotos beklebt, die Blumendekoration war viel bunter als normalerweise, es waren andere Musikstücke und für den Kondukt auf dem Zentralfriedhof sind wir mit einer Kutsche von der Halle zur Grabstelle gefahren, das hatte ich noch nie zuvor erlebt.
Es ist mir mehr als Kuriosum als eine Tragödie in Erinnerung geblieben.
Was hat dich dazu bewegt, Bestatter zu werden?
Dass ich Bestatter geworden bin, war eine Verstrickung von Zufällen. Angefangen hat es im Rahmen eines Praktikums für die Schule. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt und habe meine Ausbildung zum Bestatter in Deutschland angefangen.
Während des zweiten Lehrjahres bin ich dann nach Österreich gezogen, um dort festzustellen, dass es kein Lehrberuf ist und ich mir die bisherige Ausbildung nicht anrechnen lassen kann. Dementsprechend habe ich dann ein Jahr lang Biologie studiert und nebenbei habe ich hier bei der Bestattung PAX gearbeitet. Der damalige Chef hat mir eine Vollzeit-Stelle angeboten und ich habe mein Studium abgebrochen. 2019 habe ich die Konzessionsprüfung in Österreich abgelegt.
Ist der Beruf des Bestatters ein gut bezahlter Beruf?
Es ist ein Handwerksberuf und so ist er auch bezahlt.
Du sagst, du hast schon immer einen Hang zu makaberen Dingen, was kann ich mir darunter vorstellen?
Schon als ich sehr klein war, habe ich bereits Medical Detectives im Fernsehen geschaut. Mit acht hatte ich bereits vier Bücher über die menschliche Anatomie Zuhause, die ich wegen der Bilder durchgeblättert habe. Ich habe tote Insekten in Gläsern an verschiedenen Stellen in meinem Zimmer aufgestellt und habe zugeschaut, ob der Standort, einen Einfluss auf die Verwesung hat.
Wie reagieren neue Menschen in deinem Umfeld auf deinen Beruf?
Ich bin froh, dass die meisten sehr aufgeschlossen reagieren. Es ist ein super Eisbrecher, wenn die Konversation nur schleppend in Gang kommt und der Smalltalk über das Wetter bereits zu Ende ist. Meistens kommt dann die Frage nach dem Beruf und wenn ich dann erzähle, dass ich Bestatter bin, ist das Gespräch für die nächsten eineinhalb Stunden gesichert. Fast jede:r hat Fragen zu diesem Thema. Es ist ein Thema, das jeden betrifft. Es gibt auch Personen, die das ablehnen, die sich beispielsweise vor dem Beruf ekeln. Einfach weil sie falsche Vorstellungen davon haben. Negative Begegnungen hatte ich erst ein-, zweimal. Leute, die gesagt haben, wir Bestatter:innen seien Halsabschneider, weil Beerdigungen so teuer sind und man für jede Beerdigung zu einem Bestattungsinstitut gehen muss. Aber nach einer zweistündigen Diskussion habe ich auf diese Person überzeugt, dass das, was wir machen, Sinn macht und auch die Preise in der Regel nicht halsabschneiderisch sind, sondern ein riesiger Aufwand dahintersteckt. Die Kosten dementsprechend auch gerechtfertigt sind.
In welchem Rahmen bewegen sich die Kosten für eine Beerdigung?
Ein durchschnittliches Begräbnis bewegt sich zwischen 5000-6000 Euro. Das beinhaltet einen mittelpreisigen Sarg, Musik von einer CD, zwei Kränze, ein Sarggesteck, Parten, die verschickt werden können, die Grabpflege, Friedhofsgebühren (Nutzungsrecht der Grabstelle, Aufbahrungshalle, Grabaushub), die Überführungen, und den Pfarrer.
Wenn es etwas ganz Einfaches sein soll, ist das auch schon um 2000 Euro möglich.
Dürfte ich eine Urne in meinem Wohnzimmer aufstellen?
Ja aber im Gegensatz zu Niederösterreich darf man sie in Wien nicht selbst beisetzen. In Wien bekommt man die Genehmigung, die Urne Zuhause aufzubewahren auf eine bestimmte Zeit. Das sind in der Regel zehn Jahre. In so einem Fall muss von dem/der Eigentümer:in der Immobilie sowie von allen nahen Familienangehörigen eine schriftliche Einverständnis eingeholt werden. Zudem muss ein Grundriss übermittelt werden, wo die Urne aufgestellt wird. Das dient dazu, damit das Magistrat sieht, dass man nichts pietätsloses mit dieser Urne vorhat.
Geht der Trend Richtung Einäscherung?
Wir haben diesbezüglich ein starkes West-Ost Gefälle in Österreich. In den westlichen Bundesländern und in Wien, als multikulturelle Stadt ist die Einäscherungsrate relativ hoch meistens über 50%. In ländlicheren Gegenden, beispielsweise in Niederösterreich, gibt es wesentlich weniger Feuerbestattungen als Erdbestattungen.
Ich glaube die Tendenz geht sehr stark weg vom Friedhof. Gerade weil Familien heutzutage nicht mehr so wie vor 100-150 Jahren konzentriert an einem Ort leben.
Ein weiterer Aspekt ist die Religiosität, die mit den jüngeren Generationen abnimmt.
Weißt du schon, wie du bestattet werden möchtest?
Ohne Tamtam, ohne Pfarrer und ohne irgendwas. Auf jeden Fall eine Feuerbestattung.
Man entwickelt einen gewissen Zynismus gegenüber diesem überkandidelten Lobpreisen von Verstorbenen, das teilweise auf den Friedhöfen, bei den Trauerfeiern stattfindet.
Ich habe mal einen auf dem Friedhof getroffen, der meinte: Weißt du wie du ewig lebst? Sei ein Arschloch. Weil, geh mal auf den Friedhof und schau dir die Grabstellen an, da liegen nur die supertollen Leute und kein einziges Arschloch.
Gibt es abgesehen von Feuerbestattungen noch andere Trends bei Bestattungen?
Es wird viel gemacht im Bereich Digitalisierung. Es gibt bereits digitale Kondolenzbücher und Grabsteine.
In Graz gibt es eine Aschenstreuwiese. Dort wird die Asche ausgestreut, es gibt keine Gräber, aber eine Website, auf der man einen digitalen Grabstein hat, dieser kann individuell gestaltet werden. Zudem können Beiträge in einem Buch hinterlassen und Kerzen angezündet werden.
Ansonsten gibt es Veränderungen bei den Trauerfeiern. Es geht weg von einem klassischen Streichquartett, mittlerweile gibt bunte Lichter und es werden Leinwände aufgestellt. Es gibt Livestreams, die auf der ganzen Welt geteilt werden können.
Auch bezüglich der Beisetzung selbst verändert sich viel. Wo man beisetzen kann, wie man beisetzen kann. Dadurch, dass die Gesetze in den letzten zehn, zwanzig Jahren gelockert wurden, im Bezug darauf, was man mit Urnen machen kann. Im Umfeld von Wien sprießen die Friedwälder aus dem Boden. Das sind Wälder, in denen Urnen beigesetzt werden können. Eine Seebestattung, das ist zum Beispiel auf einem Abschnitt der Donau möglich, wird heute auch wesentlich häufiger gewählt.
Die Bereitschaft für Körperspenden steigt auch. Früher hat die Anatomie noch bezahlt, wenn man seinen Körper zur Verfügung gestellt hat. Mittlerweile muss man dafür 500-600 Euro bezahlen, da der Andrang so hoch ist und die kosten für die Abholung vom anatomischen Institut getragen werden. Oft machen es die Menschen mit dem Gedanken das Geld für die Beerdigung zu sparen und gleichzeitig etwas Gutes zu tun.
Wie wichtig ist der letzte Wunsch des Verstorbenen und inwieweit können die Angehörigen darüber hinweg entscheiden?
Grundsätzlich kann nicht über den Wunsch des Verstorbenen hinweg entschieden werden. Im Gesetz steht, dieser ist maßgeblich für die Art und Weise der Bestattung.
Wenn allerdings kein Wunsch vorhanden ist, müssen das die Angehörigen unter sich ausmachen. Normalerweise versucht man, das diplomatisch zu ordnen, in manchen Fällen ist das aber nicht möglich.
Es gibt aber in den jeweiligen Landesgesetzen gewisse Rangfolgen, wer entscheiden darf, wie die Bestattung auszusehen hat. Ehepartner:innen stehen beispielsweise über den Geschwistern des Verstorbenen. Wenn dasselbe Familienverhältnis herrscht, kommt es darauf an, wer zuerst den Auftrag für die Beerdigung erteilt.
Problematisch ist es, wenn die Verstorbene Person zu Lebzeiten nie mit den Angehörigen darüber gesprochen hat. Woher sollen sie es wissen? Das ist eine Belastung für die Angehörigen, zusätzlich zum Gefühl der Trauer kommt die Frage hoch: Mache ich irgendwas falsch?
Was waren die kuriosesten Wünsche der Angehörigen?
Wir haben schon einen Nudisten nackt beerdigt, wir haben schon jemanden mit einem Kuscheltier voller Cannabis beerdigt, mit Bier und Spielkarten. Auf einer griechisch-orthodoxen Beerdigung haben die Angehörigen Joghurt und Wein in die Grabstelle gekippt.
Bei einer Baptisten Beerdigung hat sich jede:r vor der Beerdigung neben dem offenen Sarg fotografieren lassen.
Ansonsten gibt es Sachen, die andere vielleicht als kurios empfinden würden, ich aber eher nicht. Wir haben auf einer Beerdigung schon „Always Look On The Bright Side Of Life” gespielt.
Die Verfassung ist in einer demokratischen Republik das höchste Gut. Der Verfassungsgerichtshof hütet dieses Gut. Doch was kann die Verfassung oder den Verfassungsgerichtshof bedrohen, was kann ihnen gar schaden?
Darüber und über die Lage im Ausland sprechen wir mit Dr. Reinhild Huppmann . Die Verfassungsjuristin arbeitet als Chefin der Abteilung für internationale Angelegenheiten und erzählt uns vom Fall des eisernen Vorhangs, Querdenkern, dem Sturm aufs US-Kapitol und über die Lage der Verfassungen in unseren Nachbarstaaten.
Unter dem Künstlernamen Max Magnum legt der Versicherungskaufmann Maximilian Neuhofer seit mittlerweile zehn Jahren regelmäßig in Technoclubs auf. Wenn man ihn ansieht, weiß man sofort, wie er auf sein Alias gekommen ist – mit seinem Schnauzer ähnelt er Tom Sellek, der als Privatdetektiv Magnum in die Fernsehgeschichte eingegangen ist. Auch mit seinem Musikstil passt er in Magnums Zeit, denn er fokussiert sich bei seinen Gigs auf italienischen House aus den 80ern und 90er Jahren, die er mit Schallplatten auflegt.
Im Rahmen von Farbenspiel, habe ich Max Neuhofer getroffen und ihn gefragt, wie sich die Musik- und Versicherungswelt vereinbaren lassen.
Mit seinem Künstlernamen legt er regelmäßig in Wiener und Salzburger Clubs auf und ist auf Soundcloud zu finden.
Sich seinen Mitmenschen zu öffnen, fällt oft schwer. Leichter ist es jedoch, sich einer fremden Person im Internet zu offenbaren. Sich hinter Bildschirmen zu verstecken und sein Innerstes zu verbergen ist unserer Generation nur allzu bekannt. Denn was soll einem im Schutz der weiten Internetwelt schon passieren?
Spätestens seit dem Aufkommen des Instagram Channels @werenotreallystrangers kommen junge Menschen in Fahrt. Dabei handelt es sich um Kartenspiele, bei denen tiefgründige und sensible Fragen gestellt werden – sei es die Beziehung seinem Partner, der eigenen Familie oder sich selbst, bei diesem Spiel gibt es keine Tabus.
Es gibt verschiedenen Editionen, allen ist gemein, dass Fragen beantwortet werden sollen, die unter normalen Bedingungen nicht gestellt werden. Es zeigt, dass wir unsere Mitmenschen zur Gänze kennenlernen, ihr Innenleben erkunden und verstehen wollen.
Ebenso gibt es den Mythos, dass zwei Personen nach gewissen 36 Fragen, die in drei Phasen ausgeteilt werden, verliebt sind, sofern die Runde beendet wird.
(Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Theorie zwar nicht aufgeht, jedoch einiges an Gesprächsstoff und Tränen hervorgebracht hat.)
Vor allem auf Online-Dating Plattformen wie Tinder, Bumble & Co. sind Gespräche meist eher oberflächlich als tiefgründig. Aus diesem Grund habe ich im Rahmen von dasinterview.at einen kleinen Versuch gestartet, um herauszufinden, inwieweit ein männlicher Tinder-User bereit ist, sich mir zu öffnen.
*Bei den Interviewten handelt es sich um einen persönlichen Tinder-Match, den ich bei der Recherche am offensten und grammatikalisch am angenehmsten empfunden habe.
Zuletzt lässt sich sagen, dass unsere Gesellschaft (damit meine ich: wir alle) daran arbeiten sollte, zu sagen, was man sagen will, was einem auf dem Herzen liegt, ohne sich von seinen Gefühlen oder Unsicherheiten verunsichern zu lassen. Wir alle sind menschlich, mit unseren Ängsten und Zweifeln. Und egal unter wie vielen Schichten der wahre Kern versteckt zu sein mag, oft ist er es wert, gefunden zu werden.
PS: Ferdinand* (26) war beim Kaffeedate sehr charmant!
Arnulf Zeilner ist nicht dein regulärer Twitch Livestreamer. Auf seinem Kanal dreht sich nämlich alles rund ums Mittelalter. In den Streams des Niederösterreichers erwartet einen Musik, Videospiele, Kochen und vieles mehr! In diesem Interview erfährt man mehr über seine Faszination mit dem Mittelalter und seinen Werdegang auf Twitch.
Den Körper mit mehreren Personen teilen. Das ist die Realität für Menschen, die mit dissoziativer Identitätsstörung (DID) diagnostiziert wurden. Vor über 25 Jahren wurde sie noch als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, ein Begriff, der jetzt veraltet ist. Betroffene haben mehr als eine Identität, die zu verschiedenen Zeiten die Kontrolle des Körpers übernehmen können. Jedes Mitglied eines Systems von Identitäten hat eigene Charaktereigenschaften, Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen.
DID entwickelt sich im Kindesalter, wenn überwältigende oder traumatische Erfahrungen und/oder Missbräuche stattfinden. Der Körper aktiviert eine Art Schutzmechanismus, indem er die Opfer vom Trauma dissoziiert. Betroffene wissen oft nichts über die Existenz anderer, trotz regulärer Amnesie und unerklärbarer Ereignisse. DID kann nicht medikamentös behandelt werden. Therapie ist jedoch sehr hilfreich, um Systeme zu unterstützen und die Kommunikation untereinander zu verbessern.
Dissoziative Identitätsstörung wirkt sich bei jedem anders aus. Rose, ein Mitglied des Stronghold Systems, erklärt wie DID sein kann und das Leben von Mitmenschen beeinflusst.
Was ist deine Diagnose und wie wirkt sie sich aus?
Ich habe eine dissoziative Identitätsstörung, was nach DSM-5 zu den dissoziativen Störungen gehört. Keine Persönlichkeitsstörung, was viele Menschen glauben. Für mich bedeutet das, dass ich mein Leben, Körper und Gedanken mit einigen anderen Leuten teile.
Das heißt für uns, dass wir ein paar bestimmte Aufgaben in unserem Leben haben. Zum Beispiel gibt es jemanden, der kocht. Wenn diese Person nicht vorne (= in Kontrolle des Körpers) ist, essen wir nur leicht zubereitbare Mahlzeiten, wie Sandwiches. Wenn jemand anderer versucht zu kochen, können wir die Person blockieren. Vor dem Essen fragen wir sie, ob sie sich wohlfühlt und ob sie es will. Wenn nicht, bleibt es bei Sandwiches.
Das ist ein simples Beispiel wie DID im täglichen Leben aussieht.
Was waren Anzeichen, dass du DID hast vor der Diagnose?
Ein frühes Zeichen war, dass wir nie besonders gute Noten in Englisch hatten, bis zu unserer letzten Prüfung. Wir dachten, dass wir, wegen einer Panikattacke, die Prüfung nicht gemacht und die Schule verlassen haben. Es hat sich aber herausgestellt, dass jemand in unserem System die Prüfung gemacht hat und eine 1+ bekommen hat. Unser Lehrer kam sogar und sagte: „Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Ich habe dich noch nie so Englisch reden gehört.”
Ich dachte mir nur: „Was zum Teufel?” Später haben wir diese Person, die den Test gemacht hat, kennengelernt und von ihm/ihr Englisch gelernt. Jetzt kann es jeder recht gut. Die Person konnte kein Niederländisch, also haben wir es ihm/ihr auch beigebracht. Sie konnte kein niederländisch verstehen, ich bin mir nicht sicher wieso, aber ich nehme an, es war eine Art Schutz, den sie sich aufgebaut hat.
Wie hast du dir selbst und anderen solche Situationen erklärt, bevor du wusstest, was DID ist?
Wir hatten komische Erklärungen wie: „Oh, das ist, wenn ich in Kontakt mit Gott bin. Dann rede ich nur Englisch.” Wir haben Gründe erfunden, weil es einfach absurd war. Ich bin aus den Niederlanden, rede nur Englisch und konnte nicht aufhören. Naja, nicht ich, aber jemand in mir.
Auch andere Leute haben mir erzählt, dass sie mich gesehen haben und ich da nur Englisch geredet habe. Ich dachte mir immer nur: „Oh Gott, nicht das schon wieder.” Ich konnte es nicht abstreiten, weil es so viele gesehen haben und es sogar Videos gab. Deswegen habe ich es mir so erklärt, dass dieser Moment mit Gott so heilig ist, dass ich mich an nichts erinnern kann.
Haben dich solche Momente verängstigt?
Das Beispiel war nicht unbedingt beängstigend, da ich meiner Erklärung mit Gott wirklich geglaubt habe, wodurch ich mich sicher gefühlt habe. Aber es war bereits mein ganzes Leben ein Problem, dass Leute mir sagen, dass ich was bestimmtes gemacht habe, ich konnte mich nie erinnern. Besonders in der Schule war dieser Gedächtnisverlust ein großes Problem und ich habe dadurch viele Schwierigkeiten bekommen. Leute dachten immer ich lüge, aber ich konnte mich einfach nicht erinnern. Jetzt habe ich viele Menschen in meinem Leben, die wissen, was los ist, mich respektieren und sich sicher sind, dass ich sie nicht anlügen würde.
Wie viel Zeit hast du am Stück verloren?
Es fühlte sich an, als ob ich mich für vier Stunden hinlege, dann noch zwei, später noch eine Stunde. Ich wusste nicht, dass ich dabei Zeit verliere. Für mich war das etwas so Normales, ich war mir sicher, dass jeder das erlebt. Ich war verwirrt, wieso es niemand anspricht. Aber ich war davon überzeugt, dass, wenn Leute nach Hause kommen und die Tür hinter sich schließen, das auch machen.
Wie verlief deine Diagnose? Hast du erwartet DID zu haben?
Wir wurden mehrmals diagnostiziert. Das erste Mal, als es jemand in der Therapie angesprochen hat, war 2009. Es hat uns so beängstigt, dass wir sofort gegangen sind. Wir dachten nur: „Nein, das haben wir nicht. Wir sind hier fertig.”.
Zwei Jahre später sind wir zurück zur Therapie gegangen. Wieder wurde uns vorgeschlagen, einen Spezialisten zu kontaktieren. Die Wartezeiten waren lange und wir kamen erst 2012 dran. In der Zwischenzeit haben sich die Diagnosekriterien für DID geändert, man konnte nun einen Selbstbericht machen. Früher musste eine andere Person über auffälliges Verhalten berichten und erklären, was passiert ist.
Während mir der Psychologe das erklärte, sagte ich ihm: „Ok, aber ich mache keinen Selbstbericht. Also warum erklärst du mir das?” Er schaute mich nur an und sagte: „Genau das meine ich. Vor 30 Minuten hast du einen Selbstbericht gemacht.” Ich habe es verneint, aber er sagte: „Doch. Aber du kannst dich nicht erinnern, weil jemand anderer hier war.”
Wir haben öfter Identitäten getauscht in dieser Konversation. Es war sehr surreal und wir haben anfangs mit sehr viel Verweigerung kämpfen müssen.
Das Stronghold System hatte viele Schwierigkeiten, Therapie zu finden nach der Diagnose. Lange Wartelisten, Komplikationen mit Versicherungen und weite Distanzen für Hilfe waren ein paar davon.
Als System haben wir realisiert, dass wir es nicht schaffen würden, sechs weitere Jahre auf eine Therapie zu warten – wir mussten etwas unternehmen. Und so haben wir ein Selbststudium über DID gestartet. Zuerst haben wir nur auf niederländisch recherchiert, was furchtbar war, weil die Informationen so limitiert und deprimierend waren. Wir haben Angst vor uns selbst bekommen, was davor nicht der Fall war.
Später haben wir dann realisiert, dass wir genauso auf Englisch recherchieren können und dass es über alle Themen mehr Inhalte gibt, nicht nur über DID. Eine neue Welt hat sich uns geöffnet, weil wir Leute gefunden haben, die positiver über die Störung geredet haben. Nicht unbedingt, dass es was Gutes ist, aber mehr in die Richtung: „Hey. Alles wird gut und es ist OK so zu sein.” Es war so wichtig für uns, ich habe mich zu der Zeit so ausgeschlossen gefühlt.
Anfangs war dir die Existenz anderer nicht bewusst, wie hast du sie kennengelernt?
Am Anfang dachten wir, dass wir zwölf Headmates (= Bezeichnung der anderen Personen vom Stronghold System) haben, die wir durch einen Prozess namens Mapping gefunden haben. Beim Mapping zeichnet man eine Art Karte, wo sich alle Headmates in unserer inneren Welt befinden. Aber wir konnten nicht mit allen reden, vielleicht mit drei oder vier war das Kommunizieren im Kopf möglich.
Der Rest hat auf Papier geschrieben, wir haben gemeinsam eine Art Tagebuch geführt. Dann hat aber jemand im System das Tagebuch gelesen, war wütend und hat alles zerrissen und weggeschmissen. Ich denke, sie hatten Angst und wollten diese Realität nicht wahrhaben. Wir mussten unsere Tagebücher öfter neustarten.
Wie hast du es geschafft mit ihnen zu kommunizieren?
Miteinander im Kopf reden ist keine Magie, es ist vergleichbar mit Sport. Ich mag es nicht, deswegen mache ich es nie. Genauso ist es mit normaler Kommunikation. Wir wissen alle, dass wir es tun sollten, aber es ist hart und braucht viel Durchsetzungsvermögen, es macht keinen Spaß. Innere Kommunikation verbraucht viel mentale Energie, aber sobald man die Routine raushat, wird es leichter. Jedes Mal wird es ein wenig leichter. Wenn wir jemanden gefunden hatten, den wir mochten und die Person uns mochte, übten wir viel gemeinsam. Diese Person hat dann mit anderen geübt und so weiter.
Anfangs haben wir auch viele komische Experimente gemacht, die absurdesten Sachen. Wir haben absichtlich Sachen gemacht, die eine bestimmte Person triggern würde, Tarot Karten, Pendeluhren. Alles, um Antworten zu bekommen, aber diese Techniken haben natürlich nicht funktioniert. Jetzt wissen wir, wie es funktioniert und es ist viel leichter geworden.
Wie trefft ihr Entscheidungen, die Einfluss auf alle im System haben können?
Wir verhandeln oder stimmen ab, manchmal ist das aber nicht ethisch genug. Zum Beispiel, wenn es um eine Operation geht, die einen vielleicht das restliche Leben begleitet. In solchen Fällen reden wir mit unseren Headmates, auch wenn es unangenehm sein kann. Manchmal dauert es sehr lange, jeden auf eine Wellenlänge zu bringen. Und wenn das nicht funktioniert, wird es Momente geben, wo man es trotzdem durchzieht oder eben nicht.
Nicht jeder sieht aus, wie euer Körper, insbesondere weil sich nicht jeder als Frau identifiziert. Habt ihr verschiedenes Gewand?
Richtig. Die meisten von uns sehen anders aus als der Körper. Wir haben Perücken vorbereitet und schneiden unsere eigenen Haare kurz. Es ist leichter, als lange Haare kurz aussehen zu lassen.
Dann haben wir einen Kleiderschrank gefüllt mit Männer-, Frauen- und nicht binärem Gewand. Oder auch bestimmte Sachen, in denen sich Leute wohl fühlen. Es ist aber nicht so, dass wir zehn Mal am Tag Kleidung wechseln. Wenn wir wechseln, wer vorne ist, wird diese Person nicht Gewand wechseln.
Vor einer Weile haben wir gerne hohe Schuhe getragen, was wir heutzutage nicht mehr machen, weil ein Headmate, das ein kleines Kind ist, nach vorne gekommen ist, während wir solche Schuhe getragen haben. Wir waren draußen und es konnte darin nicht laufen, deswegen ist es die ganze Zeit gestolpert, weshalb wir unseren Knöchel verletzt haben. Das ist der Grund, warum wir versuchen, nur noch flache Schuhe zu tragen.
Anfang 2020 habt ihr eure eigene gemeinnützige Organisation „The Plural Association” gegründet. Was war die Motivation hinter dieser Entscheidung?
Wir haben diesen großen, weltweiten Mangel an Hilfe für Leute bemerkt, die keine Gemeinschaft oder Unterstützung haben. Einen Ort, wo sie wirklich sie selbst sein können. In unseren Kreisen werden Leute oft nicht reingelassen. „Ein System muss so aussehen. Falls es nicht so aussieht und ihr euch nicht so verhaltet, dann könnt ihr nicht Teil der Gruppe sein”, heißt es oft. Das hat dazu geführt, dass viele ihre Systeme versteckt haben, weil sie Angst vor Ausgrenzung hatten.
Wir dachten, wir wollen das nicht. Deswegen haben wir eine Gruppe gestartet, wo jeder willkommen ist und wo sie so sein können, wie sie wollen, solange es niemanden schadet. Diese Gruppe ist größer und größer geworden. Daraufhin sind wir zu einer Konferenz in Orlando, Florida, geflogen und haben ungefähr 20 andere Systeme getroffen. Wir haben darüber geredet, wo wir uns als Bewegung und Gemeinschaft befinden und in welche Richtung wir gehen wollen. Dabei haben wir uns von der LGBTQIA+ Community und auch von Autism Speaks, der Autismus Bewegung, inspirieren lassen. Wir wollten das gleiche erreichen. Also starteten wir mit Online-Konferenzen und organisierten Plural Events, was schnell sehr beliebt wurde. Allein im ersten Jahr hatten wir 40 Leute, die sich als Sprecher angemeldet haben.
Was sind die Ziele der Organisation?
Wir haben online Hilfsgruppen und ein Hilfsprogramm. Darin gibt es wieder kleinere Gruppen, denen Leute beitreten können, damit sie über eigene Themen und Ziele reden können.
Zum Beispiel gibt es Gruppen für Leute, die Transgender sind, Autismus gemeinsam mit DID haben etc. Alles ist online und ersetzt natürlich keine Therapie, denn es ist keine Therapie, aber ein Extra-Service, den wir anbieten und der zusätzlich helfen kann. Was wir bald in die Welt setzen, ist die Plural Warmline, wo Systeme unser Team kontaktieren können und ihre Geschichten und Besorgnisse mit ausgebildeten Freiwilligen teilen können. Das ist sehr aufregend, weil Leute einfach ihr Handy aufheben können und sofort jemanden erreichen, der die Erfahrungen teilt, versteht und helfen kann.
“Du bist jetzt mein Lehrer, Tigran.”, sagte Herbie Hancock berechtigterweise über einen der bedeutendsten Jazzpianisten unserer Zeit. Der Vater war Rockfan, der Onkel hörte Jazz, Tigran war bereits mit 11 das erste Mal auf einer großen Jazzbühne und schon mit Sieger der Thelonious Monk Jazz Competition. Inspiriert von klassischer Musik, Metal und vor allem armenischer Volksmusik, entführt der inzwischen 34-jährige Pianist den Zuhörer von einem musikalischen Abenteuer ins Nächste und macht dabei nichts Geringeres als zu beweisen, warum Jazz nicht tot ist.
2022 startet er mit neuem Schnurrbart – den will er vorerst behalten – und einem Umzug nach Italien, wie er mir später über Skype erzählt. Wir sprechen über seine Inspirationen, den Wertverlust von Musik und was wir dagegen tun können.
Wann man vergangene Interviews von dir liest, bekommt man das Gefühl, dass jeder Besuch in Armenien in dir etwas Neues auslöst. Hattest du in den letzten zwei Jahre die Möglichkeit in der Heimat zu sein?
Nein. Die Pandemie selbst war ein eigenes Phänomen.
Ich habe die meiste Zeit in Los Angeles festgesteckt, bis ich vor zwei Monaten nach Italien gezogen bin. Nichtsdestotrotz ist die armenische Kultur in mir und immer bei mir, egal wo ich wohne. Manchmal ist dieses Verlangen auch stärker, wenn du weit von zu Hause weg bist. Es gibt Momente, in denen würde ich es lieben nach Armenien zu gehen und mich von der Natur, Architektur oder Künstlern inspirieren zu lassen. Diese Energie zurückzubekommen.
Trotz all dem brauche ich auch Stille zum Komponieren oder Üben, sodass ich all diese Emotionen bündeln kann.
Wenn du ein Stück schreibst, passiert zuerst die Komposition und ganz am Ende wird ein Titel hinzugefügt. Also die Musik zeichnet ein Bild, das du dann betitelst und beschreibt nicht eine frühere Vorstellung. Denkst du daran wie dein Umfeld klingt, wenn du an neuen Orten oder der Natur bist?
Ja, überall wo ich mit Jahrtausend alter Kultur in Berührung komme, überlege ich mir wie die Musik hier geklungen hat und wie sie sich verändert hat. Es ist lustig, dass du fragst, aber ich beschäftige mich gerade viel mit Mittelalter, Barock und der Musik aus dem 12. Jahrhundert. Also Musik, die fast 1000 Jahre alt ist. Und da gibt es immer ein Verlangen, sich mit etwas wieder zu verbinden. Ich weiß nicht warum, aber diese Musik inspiriert mich.
Was ist das für eine Musik? Wie klang die Musik in dieser Region vor 500 Jahren? Wie bin ich damit verbunden? Ändert mich das? Das sind Fragen, die ich mir immer stelle. Es gibt Musik, die ich entdecke, die bei mir bleibt. Wenn dich etwas berührt, das vor 700 Jahren geschrieben wurde, muss man sich fragen, wie das funktioniert. Diese alten Melodien zu erforschen, berührt mich.
Der Vater hörte Rock, der Onkel Jazz. Kannst du dich an den Moment erinnern, als du zur armenischen Volksmusik gefunden hast?
Das war tatsächlich auch wegen meinem Onkel. Er nahm mich einmal zu einer Dinnerparty bei einem seiner Freunde mit. Dort wurde gerade ein paar ECM Label Jazz gehört. Also Künstler wie Jan Garbarek, Keith Jarrett und Ralph Towner. So etwas hatte ich noch nie gehört. Zu der Zeit gab es für mich nur Bebop.
Als wir dann das Album “DIS” gehört haben, ein Duett Album von Jan Garbarek und Ralph Towner, hat es mich erwischt. Was ist das? Es ist schön und improvisiert aber nicht so wie ich es kannte. Natürlich haben auch diese Künstler sich mit Bebop beschäftigt, aber ich hörte kein derartiges musikalisches Vokabular. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass ich in ihrer Improvisation Volksmusikelemente hören konnte. Jan war von norwegischer, bulgarischer und wahrscheinlich auch armenischer Volksmusik inspiriert.
Seitdem betrachte ich improvisierte Musik anders. Diese Nacht hat mir die Tür zur Volksmusik geöffnet. Ich komm aus einer Region mit einer reichen Musikkultur. Damals war ich 13 und seitdem war mein musikalisches Leben verändert.
Ich fand es lustig, als du erzählt hast, dass du keine andere Musik mochtest, als du Bebop gehört hast.
-Tigran lacht- “Habe ich wirklich nicht.”
Das ist eine Erfahrung, die mehrere Menschen beschreiben, vor allem wenn sie Musik in westlichen Hemisphären studieren. Denkst du, dass es ein institutionelles Problem in der Art wie wir Jazz und Popular Musik unterrichten gibt?
Jazz Studies sind etwas sehr Sonderbares. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Jazz Musikern.
Es gibt die, die durch Bebop gegangen sind und dadurch ihren Weg gefunden haben und jene, die sofort mit etwas Neuem begonnen haben. Ich respektiere beide dieser Wege.
Meine Erfahrung war Bebop und das hat mich gelehrt, wie ich in Strukturen denke, sie baue und in ihnen improvisiere.
Ich bin dankbar, dass ich Bebop studiert habe und auch für all die großartigen Lehrer für Komposition und klassische Musik, die ich hatte. Das ist ein großer Teil meiner Arbeit. Jede Schule in jedem Land hat andere Systeme und ich denke nicht, dass es eines gibt, das für jeden passt.
Wir sollten weniger daran denken, welche Dinge uns nicht gezeigt wurden, sondern warum wir uns für manches nicht interessiert haben. Du wirst zu jedem Thema Leute finden, die dir die gesuchte Information geben können.
Ich habe zum Beispiel in Armenien nichts über frühe westliche Musik gelernt über die Musik vor Bach, Renaissance, westliche Polyphony und Notre-Dame Schule. Komponisten wie Pérotin, Léonin oder Machaut.
Das ist eine riesige Inspiration für mich und ich hatte davon nichts gehört, bis ich in Amerika war und bereits acht Jahre klassische Musik studiert hatte.
Es geht also darum, dass Musiker verstehen, was sie wollen und das verfolgen.
Welchen Rat würdest du also jungen Musikern geben, die ihren musikalischen Horizont erweitern wollen?
Ein Rat, den ich meinem damaligen, studierenden Selbst geben würde, ist, sich außerhalb dessen umzusehen, was gerade im Trend ist. Es ist leicht, sich und seine Stimme im Strom zu verlieren, aber vielleicht willst du etwas ganz Neues sagen. Gib darauf acht und versuch Neues zu finden, außer dem, was gerade gemacht wird.
Du sprichst auch darüber, dass Musik ihren Wert verloren hat, weil sie überall ist. Was kann gegen diesen Wertverlust unternommen werden?
Ich weiß es nicht. Musik ist aktuell überall und das ist nicht zu ändern. Ich würde gerne Musik in Restaurants und Kaffees verbieten – warum sollte ich beim Essen Musik hören?
Besonders die Idee von Hintergrundmusik! Überall läuft Musik im Hintergrund und manchmal wird auch wirklich gute Musik zur Hintergrundmusik und das ist respektlos.
Es prasselt so viel Musik und Information auf dich herunter, dass du manchmal deine Ohren zuhalten musst, um dich zu schützen.
Musik ist überall und manchmal braucht man Stille, um Musik wertzuschätzen.
Hörst du beim Autofahren Musik?
Ich fahre nicht. Also wenn ich im Auto Musik höre, bin ich nicht am Steuer. Ich kann zwar Autofahren, aber hätte Angst davor ein Stück Kunst zu hören und dabei zu lenken.
Ich bin aber meistens am Beifahrersitz, also kann ich darüber nachdenken und zuhören.
Man könnte sagen du bist als junges Talent oder Wunderkind aufgewachsen. Die Leute haben schon sehr früh erkannt, dass du ein ganz formidabler Musiker bist. Nun hast du schon eine lange Karriere hinter dir. Wie bist du damit zurechtgekommen nicht mehr das Wunderkind zu sein?
Ich hatte eigentlich nie das Gefühl ein Wunderkind zu sein, da ich in der glücklichen Lage war, einen Guide zu haben. Mein Onkel – derselbe der mir Jazz und Funk gezeigt hat – hat wirklich versucht darauf achtzugeben, dass ich nicht ausgenutzt oder als Wunderkind präsentiert wurde. Dafür bin ich wirklich dankbar, vor allem, wenn ich jetzt junge Talente sehe, die 14 sind, überall spielen und große Medienaufmerksamkeit haben.
Ich begann meine Karriere zwar früh im Alter von elf Jahren, aber niemand kannte mich bis meine Karriere bereits 10 Jahre fortgeschritten war. Ich war die meiste Zeit zuhause und habe geübt und komponiert.
Dann bin ich nach Amerika gezogen und hatte Musik, die ich mit Leuten spielen wollte. Die musste ich finden und mit der Hilfe meiner Familie bezahlen. Also wie eine “normale” Karriere und nicht wie ein Wunderkind, das im Fernsehen zu sehen war und überall präsentiert wurde.
Dafür bin ich dankbar, denn ich könnte jetzt auch nicht hier sein, musikalisch gesprochen.
Improvisation scheint ein großer Teil deiner Arbeit zu sein, deine Alben klingen dann aber sehr strukturiert. Würdest du mich durch deinen Gedankenprozess beim Komponieren führen. Wo hört die Improvisation auf und der klassische Komponist übernimmt?
Ich bin ein Komponist, der auch Klavier spielt und komponiere auch die meiste Zeit am Instrument. Ich denke, dass jede Art von geschriebener Musik das Resultat von Improvisation ist. Selbst wenn der Komponist nur an seinem Tisch sitzt und schreibt, improvisiert er in seinem Kopf.
Die Musik passiert und wird in diesem Moment ins Leben gerufen. Und alle Komponisten suchen die neue Melodie, Harmonie oder Klangerlebnis.
Es ist das, was nach dem improvisieren kommt, was mir am schwersten fällt. Sich zu überlegen was niedergeschrieben wird, welche Welt man erschafft und wie man sie gestaltet. Diese Entscheidungen zu treffen ist für mich viel schwerer. So ist nicht jede meiner Kompositionen, manche gehen schnell und leicht von der Hand, aber meistens ist es so. Ich mühe mich immer etwas ab, aber auf eine gute Art.
In manchen deiner Stücke, wie zum Beispiel Vardavar, werden relativ gängige Strukturen wie zum Beispiel zwei 4/4tel Takte in diese wirklich ausgefuchsten sechzehntel Gruppen aufgeteilt. Wie nimmst du solche rhythmisch anspruchsvollen Passagen beim Komponieren wahr?
Das kommt auf die Stelle an. Manchmal fühle ich die Gruppierungen und manchmal den geraden Takt. Wenn ich zum Beispiel über die zwei Takte bei Vardavar improvisiere, spür ich lieber die Gruppierungen, das fällt mir leichter. Manchmal brauche ich aber den 4/4tel Takt.
Was das Komponieren anbelangt passiert das alles im Nachhinein. Ich schreibe ein Stück und dann analysiere ich, was ich eigentlich gerade geschaffen habe.
2020 hast du dein letztes Album “The Call Within” veröffentlicht. Welche neuen musikalischen Abenteuer sind denn gerade in Arbeit?
Etwas später diesen Monat (Jänner 2022) kommt ein Remix von einem der Songs von “The Call Within”. Ich habe auch ein gänzlich anderes Projekt in Arbeit, das im April erscheint, aber darüber will ich noch nichts verraten.
M* war 2020 einer von rund 8.000 inhaftierten Personen in Österreich. Sein Urteil: siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Fünf Jahre auf Bewährung und ein Jahr als sogenannter Freigänger – also tagsüber in Freiheit leben, die Abende und Nächte hingegen müssen in der Strafanstalt verbracht werden. Insgesamt war M siebeneinhalb Jahre im Gefängnis, die fünf Jahre Bewährungsstrafe wurden dann aber erlassen, da er sich in den Jahren in Haft nichts zu Schulden kommen ließ. Als Freigänger konnte er sich ein Jahr auf sein zukünftiges Leben in Freiheit vorbereiten.
Heute führt M ein komplett anderes Leben, das er sich selbst nie hätte vorstellen können und erinnert sich an schwierige Zeiten, vor allem nach seiner Haft.
Warum warst du im Gefängnis?
Ich bin mit 29 ins Gefängnis gekommen. Meine Delikte waren mehrere Gewaltdelikte – schwere Körperverletzung, schwere Sachbeschädigung, Nötigung, Morddrohung.
Was geht einem durch den Kopf, wenn man das Urteil „Freiheitsstrafe“ hört?
Im Endeffekt ist man selbst schuld, wenn man ins Gefängnis kommt. Da kommt normal keiner rein, der unschuldig ist. Deshalb erwartet man es auch schon. Ich habe von Anfang an gewusst, dass das was ich mache strafbar und illegal ist – Deshalb macht es dann im Moment, wenn man da im Gericht sitzt und das Urteil hört, nicht viel mit einem. Es ist so, dass man in Österreich schon viel tun muss, um im Gefängnis zu landen, darum dachte ich mir: Es läuft ein-, zwei-, dreimal gut, aber irgendwann fliegt man auf. Wenn man zu einem kleinen Kind sagt: „Mach‘ das nicht, du wirst dich verbrennen“. Das Kind wird das nicht sofort verstehen, aber wenn man über 20 oder 25 ist, weiß man was man tut und wenn man eben nicht nach den Regeln lebt, ist man selbst schuld.
Wie ist deine Familie mit deinem Urteil umgegangen?
Ziemlich schwer – die waren sehr traurig. Aber meine Familie wusste schon früher, dass irgendwas falsch läuft. Als sie dann aber erfuhren, dass ich für mehrere Jahre ins Gefängnis muss, war das natürlich sehr schlimm für sie. Ich habe eine super Familie und ich glaube, dass es für sie schwerer war als für mich.
Findest du, du hast die Strafe verdient?
Auf jeden Fall. Es wäre sehr traurig, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich sie nicht verdient hätte. Wie gesagt: Jeder da drin hat es verdient dort zu sein. Klar gibt es ein paar Fehlurteile aber im Großen und Ganzen, ist da alles verdient.
Hattest du Angst als du abgeführt und ins Gefängnis gebracht wurdest?
Nein, Angst hatte ich keine. Aber man merkt das schon, dass es dann so weit ist. Wenn man ein-, zweimal festgenommen wird und wieder freigelassen wird und die Polizei schon sagt, dass es knapp wird und bald die U-Haft kommt, dann ist da schon was dran. Und irgendwann kam die U-Haft dann auch und dann die Freiheitsstrafe. Man weiß es also schon lange im Vorhinein, dass da irgendwann was passieren wird.
Im Grunde denkt man sich schon, dass das eigene Leben zerstört ist und macht sich Sorgen, um die ganze Lebenszeit, die man verliert, aber man macht ja trotzdem weiter. Rückschläge sind da, um sie zu überwinden, man kommt raus und macht weiter und versucht das beste aus seiner Situation zu machen.
Gab es während der Inhaftierung Lichtblicke?
Auf jeden Fall, sonst würde man das Ganze nicht aushalten. Der Halt von draußen ist wahnsinnig wichtig. Es war immer schön, Briefe von draußen zu bekommen, wenn Besuch da war oder mit jemandem zu telefonieren. Das war schon sehr wichtig! Aber man muss auch selbst was tun, an sich selbst arbeiten.
Wie kann man sich den Alltag im Gefängnis vorstellen?
Man steht um 7 Uhr auf und geht zum Frühstück, dann fängt man um 8 Uhr an zu arbeiten – vorausgesetzt man arbeitet, nicht alle wollen arbeiten. Dann ist eine Stunde Mittagspause und dann wieder Arbeit bis 14 oder 15 Uhr. Danach ist Abendruhe.
Hast du gearbeitet und wenn ja, als was?
Ja, ich habe gearbeitet. Ich war zuerst Hausarbeiter, da wäscht man die Wäsche, verteilt das Essen, reinigt das WC und die Duschen – solche Tätigkeiten. Danach war ich Gangreiniger, da reinigt man – wie der Name schon sagt – die Gänge oder macht zum Beispiel die Betten.
Man kann aus vielen verschiedenen Tätigkeiten aussuchen, das Angebot kommt immer auf die Strafanstalt an. Normalerweise kann man auch etwas machen, was in Richtung der eigenen Ausbildung geht. Zum Beispiel Mechaniker, Tischler, Schlosser… In manchen Gefängnissen gibt es auch Gärtner.
Stichwort Orange is the new Black: Ist das Leben im Gefängnis wie es in Film und TV dargestellt wird?
(lacht) Nein, auf keinen Fall. Das Gefängnis in Österreich kannst du nicht mit dem in Filmen oder Serien vergleichen. Ich sag es dir ehrlich: In Österreich ist das Gefängnis – verglichen mit Russland, USA, Thailand und so weiter – eigentlich wie ein Hotel. Natürlich fehlt dir deine Freiheit, aber wenn man kein Kinderschänder oder Vergewaltiger ist, hat man es nicht so schwer. Es sieht von außen böse aus, versteh mich nicht falsch, es sind auch böse Menschen dort, aber meistens kommt diese Angst vor Gefängnissen auch davon, dass man nicht weiß, was dort abläuft.
Und wie ist das mit der Gewalt im Gefängnis?
Ich selbst war Gott sei Dank nie Opfer von Gewalt und es ist auch nichts Alltägliches. Aber es passiert leider schon manchmal. Das Schlimmste was ich mitbekommen habe, war dass ein Insasse von einem anderen Insassen vergewaltigt wurde.
Kann man im Gefängnis Freunde finden?
Ich denke man kann überall Freunde finden, aber in dem Gefängnis, in dem ich war, war das nicht möglich. Ich habe mit niemandem mehr Kontakt, den ich dort kennengelernt habe. Aber zu ein paar Menschen, die ich dann in der Therapie nach meiner Haft kennengelernt habe, habe ich Kontakt.
Wie war das mit deiner Drogensucht im Gefängnis? Beziehungsweise wie hat deine Sucht angefangen?
Das mit den Drogen war bei mir ein klassischer Fall: Man probiert das eine, dann das andere und irgendwann habe ich über Kokain, Marihuana bis zu Speed oder MDMA alles genommen. Da rutscht man so einfach rein. Während der Haft ist es gut gegangen.
Ich war auf kaltem Entzug, das war die ersten Tage hart, aber das habe ich einfach gebraucht, um clean zu werden. Im Gefängnis kann man es sich aussuchen, ob man auf kalten Entzug gehen will. Es gibt dort Ärzt:innen, die einem Medikamente verschreiben, wenn man welche braucht.
Was war das Schwierigste, was du während deiner Haft bewältigen musstest?
Die Zeit, die nicht vergeht. Die ersten zwei Jahre waren noch erträglich aber nach den zwei Jahren wurde es sehr schwierig. Man kommt in diesen Alltag rein, weiß aber, dass man da die nächsten Jahre nicht rauskommt.
Inwiefern hast du dich während deiner Haft verändert?
Ich bin zu einem komplett anderen Menschen geworden. Mindestens 90% meines Seins haben sich verändert. Damals hätte ich mir niemals gedacht, dass ich so ein Leben wie jetzt führen werde: Ich habe meine eigene Familie, mache eine Ausbildung und habe meine eigene Wohnung.
Man muss es aber auch wirklich wollen. Natürlich hat mir die Therapie geholfen, aber es kommt sehr auf das eigene Mindset an. Das habe ich während der Haft bekommen und als Freigänger bekam ich Hilfe von Sozialarbeiter:innen, um eine Wohnung zu finden, einen Job und so weiter. Meine Freundin hilft mir heute noch, wenn ich Schwierigkeiten bekomme – auch psychisch.
Stichwort Freundin: Wie hat sie auf deine Vergangenheit reagiert?
Ganz normal, würde ich sagen. Oder sagen wir: Sie hat reagiert, wie es zu erwarten war. Sie war nicht begeistert, aber sie hat es akzeptiert und auch mich so akzeptiert, wie ich jetzt bin und auch wie ich einmal war.
Zum Thema Resozialisierung: Wie erging es dir, nachdem du deine Freiheit zurückbekommen hast? Was war das Allererste was du gemacht hast?
Als erstes bin ich feiern gegangen (lacht). Dieses Gefühl, wenn du wieder da draußen bist, ist unglaublich. Alles ist aufregend und man freut sich darauf, wieder ein Teil der Gesellschaft zu sein. Aber man kommt recht schnell drauf, wie schwer es tatsächlich ist. Man braucht, wie gesagt, einen Platz zum Schlafen, einen Job, Geld, ein Auto… Das macht einem dann schon Stress. Ich habe dann eine Drogen- und Gewalttherapie bekommen und wurde bei der Resozialisierung gut betreut – das hat es einfacher gemacht. Trotzdem muss diese Bewältigung vorrangig von einem selbst ausgehen.
Wie sind deine Erfahrungen mit anderen Menschen, denen du erzählst, dass du im Gefängnis warst? Wie sind deren Reaktionen?
Gemischt. Manchen ist es egal, manchen nicht und das ist auch ihr gutes Recht. Ich muss zugeben, dass es mir selbst egal geworden ist. Wenn man meine Vergangenheit akzeptiert, freue ich mich natürlich darüber, aber wenn man das nicht kann, soll es so sein. Dann sind das eben keine Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringe. Ich habe meine Leute, die mir wichtig sind und die mich so akzeptieren, wie ich bin.
Was würdest du deinem damaligen Ich heute sagen?
Da muss ich eigentlich schon viel früher anfangen. Es ist meistens so, dass Täter vorher das Opfer waren. Bei mir war das gleich: Ich war am Anfang ein Opfer und diese Wut und Aggression musste ich irgendwo abbauen und so wurde ich zum Täter. In Verbindung mit den Drogen wurde ich aggressiv, da hat ein falscher Blick, ein falsches Wort schon gereicht, damit ich auf 180 war. Und um auf deine Frage zurückzukommen, das würde ich meinem damaligen Ich sagen. Dass sich mit Gewalt einfach nichts lösen lässt und dass ich mir für meine Wut Hilfe suchen soll.
Bereust du deine Vergangenheit?
Nein. Die Taten bereue ich schon, also das was ich Menschen angetan habe, aber meine sonstige Vergangenheit nicht. Ich wäre nicht die Person, die ich heute bin, wenn irgendwas anders gelaufen wäre. Ich hätte vielleicht meine Freundin nicht kennengelernt, keine Familie gegründet – es passt also schon so wie es ist.
Wie offen gehst du mit deiner Vergangenheit um?
Schon offen. Gerade im privaten Bereich erzähle ich es nach einer Zeit oder erwähne es mal, aber für die Arbeit eher nicht, da rede ich nur darüber, wenn man nachfragt. Zum Beispiel, warum ich eine Lücke im Lebenslauf habe und was ich da gemacht habe, dann bin ich schon ehrlich und stehe dazu. Wenn man aber nicht explizit nachfragt, sage ich es nicht. Ich habe schon wo gearbeitet, wo mein Arbeitgeber nicht wusste, dass ich im Gefängnis war.
Du bist noch in Betreuung beziehungsweise Therapie. Wie war deine Erfahrung mit deinem Resozialisierungsprogramm?
In Bezug auf die Therapie ist die Resozialisierung echt gut gelungen. Die Therapie hat mir gut geholfen, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden. Man könnte es, denke ich, nicht allein schaffen. Ich kann mich noch erinnern, als ich die erste Nacht in Freiheit auf der Matratze in einer leeren Wohnung verbracht habe und wenn ich mir jetzt mein Leben ansehe, macht mich das stolz. Die Therapie allein hätte es nicht geschafft und ich allein auch nicht, da muss beides zusammenpassen, dass man aus dem Teufelskreis Kriminalität herauskommt.
Die wichtigste Komponente in der Resozialisierung war aber meine Familie. Die hat mir danach geholfen und war immer da. Sie sind auch sehr glücklich darüber, dass ich mein Leben wieder so auf die Reihe bekommen habe.
*Name von der Redaktion geändert. Quelle Bilder: Astrid Pichler.
Der Garten von Manuela und Herbert Gutlederer bietet manchmal einen ungewöhnlichen Anblick, und zwar immer dann, wenn ihre beiden Hausesel hier grasen. Wie diese ungewöhnliche Familie zusammen gefunden hat, und was es heißt Esel als Haustiere zu haben, erzählt Manuela in diesem Video.