Abgefuckt heißt nicht nur dieses Interviewmagazin, sondern auch eine Produktion des Burgtheaters. Laetitia Toursarkissian und Edward Lischka spielen darin die Hauptrollen. Vor einer ihrer Aufführungen treffen wir sie zum Interview über ihr Leben in der Schauspielbranche.
Ella* ist Elementarpädagogin. Was in ihrer Arbeit niemand weiß: Sie war auch Sexarbeiterin. Für einen Monat hat sie sich mit Männern getroffen, um mit ihnen Sex für Geld zu haben. Wir haben sie im November 2023 interviewt und mit ihr über ihre Perspektiven gesprochen.
*Ella wollte für dieses Interview anonym bleiben. Ihr Name wurde geändert.
Wie bist du zur Sexarbeit gekommen?
Ich bin ziemlich aktiv auf Instagram und rede dort sehr offen über Sex und Sexualität. Bei einer Fragerunde hat mich mal jemand gefragt, ob ich schon mal überlegt habe, Nacktbilder zu verkaufen. Am Anfang hatte ich keinen Plan davon, wie man das macht. Ein Euro für ein Bild? Oder zehn? Dann habe ich begonnen, mich zu informieren und das ordentlich zu machen. Vor einem Jahr habe ich dann angefangen, mich mit Männern für Geld zu treffen.
Was arbeitest du hauptberuflich?
Ich arbeite als Elementarpädagogin im Kindergarten und bin ausgebildete Sexualpädagogin.
Hat das mal zu Problemen geführt?
Nein, eigentlich nicht. Aber die Angst, dass auf einmal der Papa eines Kindes vor mir steht, war schon da. Ist aber zum Glück nie passiert.
Wie viel hast du verdient?
Ich habe für eine Stunde 100 € verlangt. Es gibt viele, die mehr verlangen, aber auch welche, bei denen es unter 100 € kostet. Ich hätte mehr verlangen können, hätte dann aber länger gebraucht, Kunden zu finden, und so wäre es dann wieder weniger Geld gewesen.
Welche Plattform hast du benutzt?
Ich habe das über die Website Booksusi gemacht. Dort kann man ein Profil erstellen. Für das zahlt man 20–25€ in einem Monat – das hat man schnell wieder drinnen. Auf dem Profil lädt man Bilder hoch und gibt Kategorien wie Größe, Gewicht und Haarfarbe an. Und welche Services man bietet. Da gibt es viel Verschiedenes, wie Blowjob, Fetischkategorien und so weiter. Und die Kunden suchen dann genau nach diesen Kategorien.
Benutzt du Onlyfans?
Habe ich mal probiert, aber sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht. Man muss 15 Prozent des Verdiensts abgeben. Das klingt nicht so viel, ist aber sehr viel dafür, dass sie gar nichts für dich machen. Zum Beispiel musst du deine Werbung selbst über eine externe Plattform schalten.
Unter Sexarbeit wird die „gewerbsmäßig und gegen Entgelt erbrachte Handlungen mit Körperkontakt“ definiert. 1974 wurde Sexarbeit in Österreich in Österreich entkriminalisiert und unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. In den Bundes- und Landesgesetzen wurden dazu genaue Regelungen festgelegt. Sexarbeiter:innen sind beispielsweise dazu verpflichtet, sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten und Infektionen wie HIV und Syphilis zu testen.
Ist Sexarbeit Arbeit?
Ja, da gibt es eh seit langer Zeit die Diskussion. Weil viele meinen Sexarbeit sollte verboten werden. Weil Frauen ausgebeutet werden und aus Zwangssituationen oder einer prekären Situation heraus quasi dazu gezwungen sind. Und weil wir im Patriarchat leben und es viele Männer gibt, die Frauen ausnutzen und übergriffig sind. Ich finde in der Diskussion wird viel zu wenig differenziert. Ich habe meine Ausbildung zur Sexualpädagogin bei der Beratungsstelle Sophie gemacht und dort sehr viel dazugelernt. Ich verwende zum Beispiel bewusst den Begriff Zwangsprostitution nicht. Was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist, ist Menschenhandel. Und das ist illegal und sollte es natürlich nicht geben. Das, was freiwillig passiert, ist Sexarbeit. Es ist für viele einfach Lohnarbeit. So wie andere halt Reinigungskraft sind. Und die wenigsten sind gerne Reinigungskraft. Die Wenigsten lieben ihren 40-Stunden-Job. Manche machen eben lieber Sexarbeit, um Geld zu verdienen.
Es gibt Menschen, die Sexarbeit verbieten wollen. Was hältst du davon?
Ob es verboten ist oder nicht, Sexarbeit wird es immer geben. Darum finde ich machen Verbote hier keinen Sinn. Es führt nämlich nicht dazu, dass es nicht passiert, sondern nur dazu, dass die Arbeit nicht geschützt ist. Es gibt dann keine Regelungen und keine Rechte für die Sexarbeiter:innen. Es soll eher an sicheren Bedingungen gearbeitet werden und offener darüber gesprochen werden. Und Betroffene sollten, wie immer, miteinbezogen werden.
Was waren Probleme, mit denen du konfrontiert warst?
Auf Booksusi kannst du deine Nummer angeben und deine Arbeitsbedingungen festlegen. Ich habe meine Arbeitszeiten angegeben und dass ich nur über das Profil kontaktiert werden möchte. Das ignorieren aber fast alle. Ich wurde den ganzen Tag über angerufen. Sie versuchen auch oft zu verhandeln. Ich habe angegeben, dass eine Stunde mit Kondom 100 € kostet. Im Endeffekt schreiben sie mir auf WhatsApp; „Eine Stunde ohne Kondom für 50€ okay?” Du hast also viel mit nervigen Typen zu tun und die Arbeit ist sehr zeitintensiv.
Welche Info hättest du gerne früher gehabt?
Es gibt sogenannte „Tastenwichser“. Das sind Typen, die nur mit dir schreiben und wollen, dass du ihnen Bilder schickst. Im Endeffekt wollen die kein Treffen. Sie versuchen nur so viel wie möglich herauszuholen, ohne zu zahlen. Darauf bin ich am Anfang reingefallen, das hätte ich gerne früher gewusst.
Wer war dein jüngster Kunde? Wer dein Ältester?
Der Jüngste war 19 Jahre alt. Ich war sein erstes Mal. Mein ältester Kunde war ein 56-jähriger, erfolgreicher Geschäftsmann.
Außergewöhnlichster Kunde?
Einmal hatte ich einen Kunden, den fand ich sehr spannend. Der war 30 Jahre alt und hatte eine Sexsucht. Der hat seine Arbeit geschwänzt, um zu Sexarbeiterinnen zu gehen. Er war sonst eigentlich kein außergewöhnlicher Typ. Er hat bei einer Menschenrechts-NGO gearbeitet und war eigentlich ziemlich cool.
Lieblingskunde?
Da gibt es zwei, ein Couple, von dem die eine selbst einmal Sexarbeiterin war. Die waren sehr respektvoll zu mir und irgendwie lustig. Er war früher auch Kunde von ihr, und dann sind sie zusammengekommen und jetzt seit 5 Jahren verheiratet. Und einmal habe ich ein bisschen auf einen Kunden gecrusht. Wir haben uns dann einmal noch getroffen, aber daraus ist dann nichts geworden.
Sind alle Kunden so nett?
Mir ist wichtig zu sagen, dass ich aus einer sehr privilegierten Situation erzähle. Ich habe das neben meinem Job gemacht, um mir Geld dazu zu verdienen. Ich war nicht davon abhängig. Das heißt, ich konnte mir die Kunden aussuchen und hatte nur nette, respektvolle Kunden. Andere haben dieses Privileg nicht, und es gibt natürlich viele widerliche Typen. Viele haben auch Migrationsgeschichte, können sich so weniger gut verständigen und sind verstärkt Diskriminierung ausgesetzt.
Welche Grenzen hast du gesetzt?
Ich habe nie meinen richtigen Namen verraten. Meine Bilder sind immer ohne Gesicht. Generell habe ich private Infos, wie meinen Job, für mich behalten. Und ich habe manche Services nicht angeboten. Ich hatte zum Beispiel nie ohne Kondom Sex, auch nicht für mehr Geld. Außerdem habe ich nie Hausbesuche gemacht. Das war mir zu unsicher.
Wo waren die Treffen?
Ich hab übers Wochenende Hotels in Wien gebucht. Da gibt es Hotels, die man online bucht, die keine Rezeption haben, sondern Zimmercodes. Das hat mich unter 100 Euro gekostet. Das hatte ich leicht wieder drinnen. Und es hatte den Vorteil, dass ich die Typen vorher duschen schicken konnte.
Symbolbild Pixabay
Wie viele Stunden hast du gearbeitet?
Übers Wochenende hatte ich maximal sechs Kunden. Also höchstens drei pro Tag, das war mein Limit. Aber die Arbeit ist ja viel mehr als das. Du bekommst durchgehend Anfragen und Anrufe. Du musst aussortieren und dir Treffen ausmachen. Das ist alles in allem sehr zeitintensiv.
Wie hat dein Umfeld reagiert, wenn sie von deinem Nebenjob erfahren haben?
Es gab sicher auch negative Reaktionen, aber ich kann dir jetzt keine explizite nennen. Weil es mir auch egal ist, wenn Leute das nicht gut finden. Ich bin eine sehr offene Person, was das betrifft. Ich glaube, dadurch, dass ich so offen damit umgehe, könnte man mich auch nicht so damit fertig machen.
Hast du deinen Eltern davon erzählt?
Ja, ich habe meiner Mama davon erzählt. Meine Mama ist aber auch sehr offen, was das betrifft. Sie hat selbst eine Ausbildung zur Sexualpädagogin und geht auch immer wieder in Swingerclubs. Die hat damit also kein Problem und weiß auch selbst, wie das so abläuft. Mein Papa weiß nicht Bescheid, aber ich habe ihm das nie bewusst nicht erzählt. Also ich hätte kein Problem damit, wenn er es weiß. Bis jetzt hat es sich nur noch nicht ergeben.
Welches Gefühl verbindest du mit Sexarbeit?
Ich habe die Zeit sehr positiv in Erinnerung. Aber es war immer noch Arbeit für mich. Und es macht schon etwas mit einem. Ich weiß nicht, ob es gesellschaftliche Vorurteile sind oder etwas Persönliches, aber irgendwas macht es mit einem.
Würdest du es noch einmal machen?
Ich verkaufe immer noch Bilder und Videos. Treffen kann ich mir derzeit nicht vorstellen. Weil es einfach sehr zeitintensiv ist. Das war auch der Grund, wieso ich mit den Treffen wieder aufgehört habe. Ich habe ja schon einen Vollzeitjob.
Was fuckt dich ab, wenn du an Sexarbeit denkst?
Das Unwissen. Die vielen Vorurteile und Stigmata. Und vor allem das Schwarz-Weiß-Denken. Ich finde nicht, dass Sexarbeit feministisch ist, aber auch nicht per se antifeministisch. Es gibt ganz viele verschiedene Arten von Sexarbeit. Da sollte viel mehr differenziert werden.
Das Thema Sexarbeit wird in der Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert. Die Debatte reicht von der Anerkennung von Sexarbeit als legitime Erwerbsquelle bis hin zur Argumentation der Ausbeutung von Frauen und der Gefährdung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung.
Qualität vor Quantität. Das unterscheidet kleine Nischengeschäfte von großen Handelsketten wie Ikea & Co. Ein Paradebeispiel dafür ist das Eisenwaren- und Haushaltsgerätegeschäft Menning-Balatka. Es ist aber auch eines der vielen traditionsreichen Wiener Geschäfte, das vom sogenannten Geschäftesterben betroffen ist. Hohe Fixkosten und ein sich wandelndes Konsumverhalten lassen Nischen wie diese immer mehr aus dem Stadtbild verschwinden.
Wir haben im Dezember 2023 mit dem Inhaber Christian Balatka gesprochen. Nach über einem Jahrhundert Betrieb hat er Ende des Jahres die Türen seines Geschäfts für immer geschlossen. Mit dieser schmerzhaften Entscheidung musste Balatka nicht nur Abschied vom Geschäft seines Großvaters nehmen, sondern vor allem von unzähligen Erinnerungen und der tiefen Verbindung zu seinen Kund:innen.
Ein freundlicher Blick, Routinehöflichkeit, vielleicht Trinkgeld. Es ist eine flüchtige Begegnung, wenn wir an der Tür das Essen vom Lieferboten entgegen nehmen. Die Erinnerung an das Gesicht verschwimmt hinter dem warmen Geruch der sehnsüchtig erwarteten Mahlzeit. Wir würden es aber ohnehin nicht wiedererkennen. Auf der Straße ist es eines von vielen in einer Masse aus pinken, grünen und orangenen Signalfarben auf elektrifizierten Zweirädern.
Markus weiß bestens über den Job Bescheid. Neben dem Studium war er selbst für mehrere Lieferservice-Anbieter unterwegs und fährt heute noch ab und zu. Radfahren ist für ihn ein Hobby und er engagiert sich ehrenamtlich für andere FahrradbotInnen beim Riders Collective – einer Initiative des ÖGBs, die FahrerInnen über ihre Rechte aufklärt und sich für arbeitgeberunabhängige Solidarität einsetzt. Ihren Standort hat das Riders Collective am Gürtel, genauer gesagt im Roten Bogen an der Josefstädter Straße. Hier treffen wir Markus zum Interview, um endlich ein konkretes Bild von der Industrie zu bekommen, die uns das Essen vor die Haustür liefert.
von Alexander Zauner, 17.11.2023
Bestellst du selbst manchmal bei Lieferdiensten?
Sehr selten, zuletzt als ich krank zu Hause gelegen bin. Die Restaurants geben ca. 30 % der Summe ab und dann kommt ein Fahrer der auch nicht gut bezahlt wird. Da kann man es auch selbst abholen oder direkt beim Restaurant anrufen. So zahlt das Restaurant zumindest keine Abgabe und liefert mit den eigenen Angestellten.
Gibt es sonst Dinge die man beachten kann, wenn man bestellt?
Was Arbeitsbedingungen betrifft, könnte man beispielsweise versuchen auf Dienste zurückzugreifen, die die Rider mit echten Dienstverträgen anstellen. Das wäre in Österreich Lieferando, weil Wolt und Foodora nur freie Dienstnehmer einstellen. Da greifen die Kollektivverträge nicht, es wird nur nach Auftrag bezahlt und du wartest oft stundenlang auf Aufträge. Es geht aber nicht nur um geregelte Stundenlöhne sondern auch um Krankenstand, bezahlten Urlaub und Co. Ich hab mir selbst vor ein paar Jahren während der Arbeit das Schlüsselbein gebrochen und war drei Monate außer Gefecht. Als freier Dienstnehmer hätte das für mich damals bedeutet, dass ich in der Zeit gar kein Geld verdiene.
Die Interessen der Rider werden von der Gewerkschaft vida vertreten. Seit 2020 gibt es einen Kollektivvertrag für FahrradbotInnen. Dieser gilt allerdings nur für Arbeitnehmer mit Dienstvertrag, nicht aber für freie Arbeitnehmer
Ist das Geld ein Grund aus dem manche ohne Dienstvertrag arbeiten wollen?
Es wird immer damit geworben, dass man damit mehr verdient. Wenn man aber die 14 Gehälter vom Kollektivvertrag berücksichtigt, kommen fest Angestellte mit Urlaub auf einen Stundenlohn von ca. 16 €. Das erreichen FahrerInnen bei Wolt oder Foodora mittlerweile kaum mehr, obwohl eben überall damit geworben wird. Man ist ein bisschen flexibler, auszahlen tut es sich aber nicht.
Ist es wegen der Flexibilität ein Job, den du z.B. Studierenden empfehlen würdest?
Teilweise. Es ist halt vorteilhaft, dass man relativ spontan arbeiten kann. Das wird aber auch schwieriger, weil Schichten manchmal schon eine Woche im Vorhinein vergeben werden. Bei Foodora gibt es dann auch noch ein Ranking, wo die oberen FahrerInnen ihre Schichten vor den anderen buchen können. Strafpunkte gibt es beispielsweise wenn man Toilettenpausen macht, das Handy-Signal verliert oder nicht zu Spezialzeiten an Sonn- und Feiertagen arbeitet. Die besten können ihre Schichten schon eine Stunde vorher buchen. Danach gibt es oft gar keine Schichten mehr.
Gibt es das nur bei freien oder auch bei fest angestellten?
Nur bei freien Dienstnehmern. Es wird dadurch erwartet, dass sich alle FahrerInnen trotzdem wie echte Angestellte verhalten, wozu sie gesetzlich eigentlich nicht verpflichtet sind. Strafpunkte nehmen einem dann die Möglichkeit in der nächsten Woche zu arbeiten.
„Wenn die Plattformen von den Arbeitern erwarten, dass sie ihre pinken Jacken und Rucksäcke tragen und sich an alle Regeln halten, sind es meiner Meinung nach keine freien Dienstnehmer.“
Markus
Man sollte ja meinen, dass das vor allem als Nebenjob geeignet ist. Eine Studie des Europäischen Instituts für Wohlfahrtspolitik hat aber ergeben, dass fast ein Drittel der Arbeitnehmer auf das Einkommen aus dieser Arbeit angewiesen sind.
Ich glaube die meisten wollen auch Vollzeit fahren. Viele arbeiten 60 Stunden, sieben Tage die Woche ohne Pause, weil bei den freien Dienstverhältnissen keine Ruhezeiten einzuhalten sind. Mit dem Kollektivvertrag wurde ein Weg eingeschlagen, dass man sagt das die Leute davon leben können, sozial abgesichert sind und am Ende des Monats planen können, wie viel Geld sie verdienen. Dass die Plattformen das umgehen, indem sie nur freie Dienstnehmer einstellen, ist dann sehr ärgerlich.
Fördern Rahmenbedingungen wie das Punktesystem riskante Fahrweisen?
Ja schon, da spielt die Bezahlung pro Bestellung auch eine wichtige Rolle. Wenn du nie weißt, wie viel Geld du am Ende der Stunde machst, versuchst du immer möglichst schnell zu sein. Da zählen rote Ampeln dann nicht mehr so viel. Ich nehme es selbst wahr, dass die Leute unter Stress stehen und Auftrag für Auftrag hinterherhetzen. Es wurden auch die Distanzen von den Bestellungen in den letzten Monaten viel größer, weil der Algorithmus umgestellt wurde. Aus diesen Gründen tunen viele FahrerInnen unerlaubterweise ihre E-Bikes und rechnen durch, wie viel sie liefern müssen, um eine mögliche Strafe wieder reinzuholen.
Ist trotzdem eine Regelung mit Dienstvertrag für Arbeitgeber so unattraktiv, dass sie lieber auf freie Dienstnehmer setzen?
Ich glaube ein echtes Dienstverhältnis hat auch für die Arbeitgeber große Vorteile, weil sie wissen, zu welchen Zeiten die Leute arbeiten. Beispielsweise haben Wolt und Foodora an Schlechtwettertagen teils Schwierigkeiten genug Leute zu finden, die arbeiten wollen. Ich war vor ein paar Tagen als es geschüttet hat, abends noch Wolt fahren. Da gab es Pizzen, die zwei Stunden fertig aber nicht abgeholt waren, weil für das Geld niemand bereit ist bei dem schlechten Wetter zu fahren. Wenn die Leute fest angestellt sind, können die Arbeitgeber besser planen wie viele gebraucht werden und sie wissen, dass die meisten dann auch arbeiten werden.
Wird die Arbeitnehmervertretung bei den Ridern auch angenommen?
Es gibt eigene Communitys in der Rider Szene. Leider gibt es einige Schwierigkeiten, wie Sprachbarrieren, die zu vernetzen, um gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Vor kurzem gab es eine Demo von 200 freien Dienstnehmern vor dem Foodora-Hauptgebäude in Wien, das kümmert Foodora aber leider recht wenig. Deshalb ist es wichtig gemeinsam Aktionen zu planen. Da reicht es wenn die Leute einen Tag nicht online kommen, um Veränderungen zu bewirken.
Ist Vernetzung die Hauptaufgabe des Riders Collective im Roten Bogen?
Ja genau, einfach Leute zu informieren und zu connecten, eine gewisse Community aufzubauen. Die Leute können sich hier während der Arbeit ausruhen, die Toilette benutzen oder einen Kaffee trinken. Alle zu vernetzen ist aber eben schwierig, auch weil die meisten dauernd unterwegs sind. Wenn sie mal Pause haben sind sie nicht immer in der Nähe. Wir versuchen es auch über regelmäßige Events, wie unseren regelmäßigen Stammtisch, damit die Leute wissen, dass sie jederzeit vorbei kommen können. Im Sommer gibt’s das auch mit Grillplatzreservierung auf der Donauinsel. Das wird bei den FahrerInnen gut angenommen und wir kommen regelmäßig zusammen.
Ab und zu läutet das altmodische Telefon der Wiener Buchhandlung in der wir uns verabredet haben. Eine Woche vor und eine Woche nach unserem Interview hat er dort jeweils eine Lesung gehalten. Ludwig Drahosch, ein Wiener Künstler, der vor Kurzem sein erstes Buch veröffentlicht hat. In diesem versucht er die moderne Zeit aus den Augen eines Renaissance Malers darzustellen.
Ein Leben für das Radio – Ein Portrait über Martina Rupp
Von Eva E. Zecha
Im August 2021 ist eine der bekanntesten weiblichen Radiostimmen Österreichs in Pension gegangen. Martina Rupp hat populären Sendungen wie dem Ö3-Wecker oder „Guten Morgen am Sonntag“ ihre Stimme verliehen. In der ORF-Informationssendung „Konkret“ hat sie Konsument:innen über aktuelle Themen zu Verbraucherschutz und Zuseher:innen-Fragen aufgeklärt. In diesem Interview erzählt Martina Rupp von ihrer 42-jährigen Tätigkeit beim ORF.
Als 18-Jährige begann Martina Rupp ihre Karriere beim Radio, und wurde sogleich mit der geschlechterstereotypen Arbeitsatmosphäre der frühen Achtzigerjahre konfrontiert. „Ich habe immer ganz klar gesagt, was ich nicht so gut finde und dass sie das bitte ändern sollen.“, „Ich war mit 18 genauso drauf wie jetzt. Genauso feministisch.“, sagt Martina Rupp heute, und dass sie mit ihrer Einstellung damals bei den männlichen Kollegen ordentlich aneckte.
Notorisches Unterbrechen, das Rauchen während Redaktionssitzungen, untergriffige Bemerkungen gegenüber Frauen. Bei den gesellschaftlichen, wie auch den rechtlichen Rahmenbedingungen, hat sich in den vergangenen 40 Jahren, nicht zuletzt durch die beherzten Initiativen von emanzipierten Persönlichkeiten wie Johanna Dohnal, oder Gesetzesänderungen wie die Einführung des sogenannten „Pograpsch-Paragrafen“, viel bewegt. Aber auch bei den Fernsehsendern hat ein neues Frauenbild Einzug gehalten, „und das ist durchaus ein Erdbeben, weil früher musstest du 35 Jahre jung, 1,75m groß, 55 Kilo schwer sein. Oder du warst der Typ ‚goschert, aber lustig‘. Nein, das hat sich angepasst.“, so die ehemalige Moderatorin. Dass das optische Erscheinungsbild im Fernsehbereich nach wie vor wichtig ist, sei nicht von der Hand zu weisen, aber Faktoren wie Kompetenz und Erfahrung haben jetzt, vor allem für Frauen, mehr Gewicht bekommen.
Die Anfänge
Ihren Werdegang beim ORF hat Martina Rupp nie bereut. Der Grundstein ihrer Karriere wurde mit der Vertonung eines Hörerbriefes gelegt, den die damals 15-Jährige eingeschickt hatte. Über das Zeilenhonorar freute sie sich seinerzeit gewaltig. Heute sagt die 60-Jährige über dieses Erlebnis: „Radio war für mich tatsächlich das Größte. Das größte Medium, die größte Kunstform, das Spannendste … Dass mir der Einstieg gelungen ist, und dass ich mich halten und weiterentwickeln konnte, hat mich so beglückt in meinem Leben.“
Das redaktionelle Handwerk lernte die junge Studentin beim Radiosender Ö3. Dazu gehörten unter anderem das Schneiden auf analogen Bandgeräten, sowie Interviewführung und Sprechtechnik. Das Dreifach-Studium Publizistik, Politikwissenschaft und Pädagogik hängte die engagierte Sprecherin bald darauf an den Nagel, und übernahm die Leitung über die von ihr moderierte Jugendsendung „Zickzack“. ORF-Persönlichkeiten wie Peter Rapp, oder Künstler wie der junge Falco zählten zu ihren beruflichen Wegbegleitern. Martina Rupp erinnert sich: „Am Anfang, als ich bei Ö3 begonnen habe, beim ‚Treffpunkt‘, waren alle ganz jung. Ich habe den Falko interviewt und war natürlich wahnsinnig unsicher, und er war noch viel unsicherer. Alle standen ganz am Anfang.“
Auch auf den Zug der rasanten technologische Entwicklung, der in der Unterhaltungsbranche stattfand, sprang Martina Rupp auf: „Ich war die erste Frau in einem DJ-Studio in Österreich, und die erste, die CDs gespielt hat.“
Rückblick und Ausblick
Die letzten sieben Jahre moderierte Frau Rupp sonntags den ‚Ö3-Wecker‘. Wo andere sich darauf freuen, gemütlich ausschlafen zu können, begann der Tag für die Moderatorin bereits um 3:30 Uhr. Dazu sagt die nunmehrige Pensionistin: “In meinem Alter ist das eigentlich furchtbar. Trotzdem habe ich mich dabei ertappt, wie ich dort stehe, einen Mix mache und mir denke: Es war so auf den Punkt genau, und so richtig. Das ist es, das ist mein Job! … Mich hat es wahnsinnig glücklich gemacht. Ich würde es jederzeit genauso wieder machen.“
Über die Zukunft des Radios macht sich die langjährige Medienschaffende keine Sorgen. Schon vor 40 Jahren, mit dem Aufkommen der ersten Musikvideos und MTV wurde der Abgesang auf das Radio gestartet. Warum es nach wie vor das Radio braucht, erklärt Martina Rupp folgendermaßen: „Unsere Hörer brauchen verlässliche Begleiter in den Tag. Brauchen Menschen, die sich mit aktuellen Ereignissen beschäftigen, diese einordnen und kommentieren. Die wenigsten Leute kommen dazu, sich Pressekonferenzen anzuhören und alle Kommentare dazu durchzulesen. Die Hörer brauchen Hintergrundinformationen. Und in der Rushhour beim nach Hause fahren erzählt man, wie sich das Thema, das wir im Wecker angeschnitten haben, untertags entwickelt hat.“
Für ihre persönliche Zukunft nach dem Radio bleibt Martina Rupp dem auditiven Medium erst einmal erhalten, denn sie spricht aktuell für eine Informations-Kampagne über Gürtelrose Podcasts ein, die online für jedermann und jederfrau abrufbar sind. Dieses Thema ist für die ehemalige Moderatorin eine Herzensangelegenheit, da sie selbst daran erkrankt ist und bei der Zielgruppe der über 50-Jährigen ein Bewusstsein für diese Krankheit schaffen möchte. Darüber hinaus, genießt Frau Rupp nun nach Herzenslust ihre viele Freizeit. Martina Rupp zu ihren Plänen: „Es gibt noch ein tolles Projekt, vielleicht mache ich das doch. Aber nur mehr das, was ich wirklich kann und mag.“
Unter dem Künstlernamen Max Magnum legt der Versicherungskaufmann Maximilian Neuhofer seit mittlerweile zehn Jahren regelmäßig in Technoclubs auf. Wenn man ihn ansieht, weiß man sofort, wie er auf sein Alias gekommen ist – mit seinem Schnauzer ähnelt er Tom Sellek, der als Privatdetektiv Magnum in die Fernsehgeschichte eingegangen ist. Auch mit seinem Musikstil passt er in Magnums Zeit, denn er fokussiert sich bei seinen Gigs auf italienischen House aus den 80ern und 90er Jahren, die er mit Schallplatten auflegt.
Im Rahmen von Farbenspiel, habe ich Max Neuhofer getroffen und ihn gefragt, wie sich die Musik- und Versicherungswelt vereinbaren lassen.
Mit seinem Künstlernamen legt er regelmäßig in Wiener und Salzburger Clubs auf und ist auf Soundcloud zu finden.
Arnulf Zeilner ist nicht dein regulärer Twitch Livestreamer. Auf seinem Kanal dreht sich nämlich alles rund ums Mittelalter. In den Streams des Niederösterreichers erwartet einen Musik, Videospiele, Kochen und vieles mehr! In diesem Interview erfährt man mehr über seine Faszination mit dem Mittelalter und seinen Werdegang auf Twitch.
Den Körper mit mehreren Personen teilen. Das ist die Realität für Menschen, die mit dissoziativer Identitätsstörung (DID) diagnostiziert wurden. Vor über 25 Jahren wurde sie noch als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, ein Begriff, der jetzt veraltet ist. Betroffene haben mehr als eine Identität, die zu verschiedenen Zeiten die Kontrolle des Körpers übernehmen können. Jedes Mitglied eines Systems von Identitäten hat eigene Charaktereigenschaften, Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen.
DID entwickelt sich im Kindesalter, wenn überwältigende oder traumatische Erfahrungen und/oder Missbräuche stattfinden. Der Körper aktiviert eine Art Schutzmechanismus, indem er die Opfer vom Trauma dissoziiert. Betroffene wissen oft nichts über die Existenz anderer, trotz regulärer Amnesie und unerklärbarer Ereignisse. DID kann nicht medikamentös behandelt werden. Therapie ist jedoch sehr hilfreich, um Systeme zu unterstützen und die Kommunikation untereinander zu verbessern.
Dissoziative Identitätsstörung wirkt sich bei jedem anders aus. Rose, ein Mitglied des Stronghold Systems, erklärt wie DID sein kann und das Leben von Mitmenschen beeinflusst.
Was ist deine Diagnose und wie wirkt sie sich aus?
Ich habe eine dissoziative Identitätsstörung, was nach DSM-5 zu den dissoziativen Störungen gehört. Keine Persönlichkeitsstörung, was viele Menschen glauben. Für mich bedeutet das, dass ich mein Leben, Körper und Gedanken mit einigen anderen Leuten teile.
Das heißt für uns, dass wir ein paar bestimmte Aufgaben in unserem Leben haben. Zum Beispiel gibt es jemanden, der kocht. Wenn diese Person nicht vorne (= in Kontrolle des Körpers) ist, essen wir nur leicht zubereitbare Mahlzeiten, wie Sandwiches. Wenn jemand anderer versucht zu kochen, können wir die Person blockieren. Vor dem Essen fragen wir sie, ob sie sich wohlfühlt und ob sie es will. Wenn nicht, bleibt es bei Sandwiches.
Das ist ein simples Beispiel wie DID im täglichen Leben aussieht.
Was waren Anzeichen, dass du DID hast vor der Diagnose?
Ein frühes Zeichen war, dass wir nie besonders gute Noten in Englisch hatten, bis zu unserer letzten Prüfung. Wir dachten, dass wir, wegen einer Panikattacke, die Prüfung nicht gemacht und die Schule verlassen haben. Es hat sich aber herausgestellt, dass jemand in unserem System die Prüfung gemacht hat und eine 1+ bekommen hat. Unser Lehrer kam sogar und sagte: „Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Ich habe dich noch nie so Englisch reden gehört.”
Ich dachte mir nur: „Was zum Teufel?” Später haben wir diese Person, die den Test gemacht hat, kennengelernt und von ihm/ihr Englisch gelernt. Jetzt kann es jeder recht gut. Die Person konnte kein Niederländisch, also haben wir es ihm/ihr auch beigebracht. Sie konnte kein niederländisch verstehen, ich bin mir nicht sicher wieso, aber ich nehme an, es war eine Art Schutz, den sie sich aufgebaut hat.
Wie hast du dir selbst und anderen solche Situationen erklärt, bevor du wusstest, was DID ist?
Wir hatten komische Erklärungen wie: „Oh, das ist, wenn ich in Kontakt mit Gott bin. Dann rede ich nur Englisch.” Wir haben Gründe erfunden, weil es einfach absurd war. Ich bin aus den Niederlanden, rede nur Englisch und konnte nicht aufhören. Naja, nicht ich, aber jemand in mir.
Auch andere Leute haben mir erzählt, dass sie mich gesehen haben und ich da nur Englisch geredet habe. Ich dachte mir immer nur: „Oh Gott, nicht das schon wieder.” Ich konnte es nicht abstreiten, weil es so viele gesehen haben und es sogar Videos gab. Deswegen habe ich es mir so erklärt, dass dieser Moment mit Gott so heilig ist, dass ich mich an nichts erinnern kann.
Haben dich solche Momente verängstigt?
Das Beispiel war nicht unbedingt beängstigend, da ich meiner Erklärung mit Gott wirklich geglaubt habe, wodurch ich mich sicher gefühlt habe. Aber es war bereits mein ganzes Leben ein Problem, dass Leute mir sagen, dass ich was bestimmtes gemacht habe, ich konnte mich nie erinnern. Besonders in der Schule war dieser Gedächtnisverlust ein großes Problem und ich habe dadurch viele Schwierigkeiten bekommen. Leute dachten immer ich lüge, aber ich konnte mich einfach nicht erinnern. Jetzt habe ich viele Menschen in meinem Leben, die wissen, was los ist, mich respektieren und sich sicher sind, dass ich sie nicht anlügen würde.
Wie viel Zeit hast du am Stück verloren?
Es fühlte sich an, als ob ich mich für vier Stunden hinlege, dann noch zwei, später noch eine Stunde. Ich wusste nicht, dass ich dabei Zeit verliere. Für mich war das etwas so Normales, ich war mir sicher, dass jeder das erlebt. Ich war verwirrt, wieso es niemand anspricht. Aber ich war davon überzeugt, dass, wenn Leute nach Hause kommen und die Tür hinter sich schließen, das auch machen.
Wie verlief deine Diagnose? Hast du erwartet DID zu haben?
Wir wurden mehrmals diagnostiziert. Das erste Mal, als es jemand in der Therapie angesprochen hat, war 2009. Es hat uns so beängstigt, dass wir sofort gegangen sind. Wir dachten nur: „Nein, das haben wir nicht. Wir sind hier fertig.”.
Zwei Jahre später sind wir zurück zur Therapie gegangen. Wieder wurde uns vorgeschlagen, einen Spezialisten zu kontaktieren. Die Wartezeiten waren lange und wir kamen erst 2012 dran. In der Zwischenzeit haben sich die Diagnosekriterien für DID geändert, man konnte nun einen Selbstbericht machen. Früher musste eine andere Person über auffälliges Verhalten berichten und erklären, was passiert ist.
Während mir der Psychologe das erklärte, sagte ich ihm: „Ok, aber ich mache keinen Selbstbericht. Also warum erklärst du mir das?” Er schaute mich nur an und sagte: „Genau das meine ich. Vor 30 Minuten hast du einen Selbstbericht gemacht.” Ich habe es verneint, aber er sagte: „Doch. Aber du kannst dich nicht erinnern, weil jemand anderer hier war.”
Wir haben öfter Identitäten getauscht in dieser Konversation. Es war sehr surreal und wir haben anfangs mit sehr viel Verweigerung kämpfen müssen.
Das Stronghold System hatte viele Schwierigkeiten, Therapie zu finden nach der Diagnose. Lange Wartelisten, Komplikationen mit Versicherungen und weite Distanzen für Hilfe waren ein paar davon.
Als System haben wir realisiert, dass wir es nicht schaffen würden, sechs weitere Jahre auf eine Therapie zu warten – wir mussten etwas unternehmen. Und so haben wir ein Selbststudium über DID gestartet. Zuerst haben wir nur auf niederländisch recherchiert, was furchtbar war, weil die Informationen so limitiert und deprimierend waren. Wir haben Angst vor uns selbst bekommen, was davor nicht der Fall war.
Später haben wir dann realisiert, dass wir genauso auf Englisch recherchieren können und dass es über alle Themen mehr Inhalte gibt, nicht nur über DID. Eine neue Welt hat sich uns geöffnet, weil wir Leute gefunden haben, die positiver über die Störung geredet haben. Nicht unbedingt, dass es was Gutes ist, aber mehr in die Richtung: „Hey. Alles wird gut und es ist OK so zu sein.” Es war so wichtig für uns, ich habe mich zu der Zeit so ausgeschlossen gefühlt.
Anfangs war dir die Existenz anderer nicht bewusst, wie hast du sie kennengelernt?
Am Anfang dachten wir, dass wir zwölf Headmates (= Bezeichnung der anderen Personen vom Stronghold System) haben, die wir durch einen Prozess namens Mapping gefunden haben. Beim Mapping zeichnet man eine Art Karte, wo sich alle Headmates in unserer inneren Welt befinden. Aber wir konnten nicht mit allen reden, vielleicht mit drei oder vier war das Kommunizieren im Kopf möglich.
Der Rest hat auf Papier geschrieben, wir haben gemeinsam eine Art Tagebuch geführt. Dann hat aber jemand im System das Tagebuch gelesen, war wütend und hat alles zerrissen und weggeschmissen. Ich denke, sie hatten Angst und wollten diese Realität nicht wahrhaben. Wir mussten unsere Tagebücher öfter neustarten.
Wie hast du es geschafft mit ihnen zu kommunizieren?
Miteinander im Kopf reden ist keine Magie, es ist vergleichbar mit Sport. Ich mag es nicht, deswegen mache ich es nie. Genauso ist es mit normaler Kommunikation. Wir wissen alle, dass wir es tun sollten, aber es ist hart und braucht viel Durchsetzungsvermögen, es macht keinen Spaß. Innere Kommunikation verbraucht viel mentale Energie, aber sobald man die Routine raushat, wird es leichter. Jedes Mal wird es ein wenig leichter. Wenn wir jemanden gefunden hatten, den wir mochten und die Person uns mochte, übten wir viel gemeinsam. Diese Person hat dann mit anderen geübt und so weiter.
Anfangs haben wir auch viele komische Experimente gemacht, die absurdesten Sachen. Wir haben absichtlich Sachen gemacht, die eine bestimmte Person triggern würde, Tarot Karten, Pendeluhren. Alles, um Antworten zu bekommen, aber diese Techniken haben natürlich nicht funktioniert. Jetzt wissen wir, wie es funktioniert und es ist viel leichter geworden.
Wie trefft ihr Entscheidungen, die Einfluss auf alle im System haben können?
Wir verhandeln oder stimmen ab, manchmal ist das aber nicht ethisch genug. Zum Beispiel, wenn es um eine Operation geht, die einen vielleicht das restliche Leben begleitet. In solchen Fällen reden wir mit unseren Headmates, auch wenn es unangenehm sein kann. Manchmal dauert es sehr lange, jeden auf eine Wellenlänge zu bringen. Und wenn das nicht funktioniert, wird es Momente geben, wo man es trotzdem durchzieht oder eben nicht.
Nicht jeder sieht aus, wie euer Körper, insbesondere weil sich nicht jeder als Frau identifiziert. Habt ihr verschiedenes Gewand?
Richtig. Die meisten von uns sehen anders aus als der Körper. Wir haben Perücken vorbereitet und schneiden unsere eigenen Haare kurz. Es ist leichter, als lange Haare kurz aussehen zu lassen.
Dann haben wir einen Kleiderschrank gefüllt mit Männer-, Frauen- und nicht binärem Gewand. Oder auch bestimmte Sachen, in denen sich Leute wohl fühlen. Es ist aber nicht so, dass wir zehn Mal am Tag Kleidung wechseln. Wenn wir wechseln, wer vorne ist, wird diese Person nicht Gewand wechseln.
Vor einer Weile haben wir gerne hohe Schuhe getragen, was wir heutzutage nicht mehr machen, weil ein Headmate, das ein kleines Kind ist, nach vorne gekommen ist, während wir solche Schuhe getragen haben. Wir waren draußen und es konnte darin nicht laufen, deswegen ist es die ganze Zeit gestolpert, weshalb wir unseren Knöchel verletzt haben. Das ist der Grund, warum wir versuchen, nur noch flache Schuhe zu tragen.
Anfang 2020 habt ihr eure eigene gemeinnützige Organisation „The Plural Association” gegründet. Was war die Motivation hinter dieser Entscheidung?
Wir haben diesen großen, weltweiten Mangel an Hilfe für Leute bemerkt, die keine Gemeinschaft oder Unterstützung haben. Einen Ort, wo sie wirklich sie selbst sein können. In unseren Kreisen werden Leute oft nicht reingelassen. „Ein System muss so aussehen. Falls es nicht so aussieht und ihr euch nicht so verhaltet, dann könnt ihr nicht Teil der Gruppe sein”, heißt es oft. Das hat dazu geführt, dass viele ihre Systeme versteckt haben, weil sie Angst vor Ausgrenzung hatten.
Wir dachten, wir wollen das nicht. Deswegen haben wir eine Gruppe gestartet, wo jeder willkommen ist und wo sie so sein können, wie sie wollen, solange es niemanden schadet. Diese Gruppe ist größer und größer geworden. Daraufhin sind wir zu einer Konferenz in Orlando, Florida, geflogen und haben ungefähr 20 andere Systeme getroffen. Wir haben darüber geredet, wo wir uns als Bewegung und Gemeinschaft befinden und in welche Richtung wir gehen wollen. Dabei haben wir uns von der LGBTQIA+ Community und auch von Autism Speaks, der Autismus Bewegung, inspirieren lassen. Wir wollten das gleiche erreichen. Also starteten wir mit Online-Konferenzen und organisierten Plural Events, was schnell sehr beliebt wurde. Allein im ersten Jahr hatten wir 40 Leute, die sich als Sprecher angemeldet haben.
Was sind die Ziele der Organisation?
Wir haben online Hilfsgruppen und ein Hilfsprogramm. Darin gibt es wieder kleinere Gruppen, denen Leute beitreten können, damit sie über eigene Themen und Ziele reden können.
Zum Beispiel gibt es Gruppen für Leute, die Transgender sind, Autismus gemeinsam mit DID haben etc. Alles ist online und ersetzt natürlich keine Therapie, denn es ist keine Therapie, aber ein Extra-Service, den wir anbieten und der zusätzlich helfen kann. Was wir bald in die Welt setzen, ist die Plural Warmline, wo Systeme unser Team kontaktieren können und ihre Geschichten und Besorgnisse mit ausgebildeten Freiwilligen teilen können. Das ist sehr aufregend, weil Leute einfach ihr Handy aufheben können und sofort jemanden erreichen, der die Erfahrungen teilt, versteht und helfen kann.
“Du bist jetzt mein Lehrer, Tigran.”, sagte Herbie Hancock berechtigterweise über einen der bedeutendsten Jazzpianisten unserer Zeit. Der Vater war Rockfan, der Onkel hörte Jazz, Tigran war bereits mit 11 das erste Mal auf einer großen Jazzbühne und schon mit Sieger der Thelonious Monk Jazz Competition. Inspiriert von klassischer Musik, Metal und vor allem armenischer Volksmusik, entführt der inzwischen 34-jährige Pianist den Zuhörer von einem musikalischen Abenteuer ins Nächste und macht dabei nichts Geringeres als zu beweisen, warum Jazz nicht tot ist.
2022 startet er mit neuem Schnurrbart – den will er vorerst behalten – und einem Umzug nach Italien, wie er mir später über Skype erzählt. Wir sprechen über seine Inspirationen, den Wertverlust von Musik und was wir dagegen tun können.
Wann man vergangene Interviews von dir liest, bekommt man das Gefühl, dass jeder Besuch in Armenien in dir etwas Neues auslöst. Hattest du in den letzten zwei Jahre die Möglichkeit in der Heimat zu sein?
Nein. Die Pandemie selbst war ein eigenes Phänomen.
Ich habe die meiste Zeit in Los Angeles festgesteckt, bis ich vor zwei Monaten nach Italien gezogen bin. Nichtsdestotrotz ist die armenische Kultur in mir und immer bei mir, egal wo ich wohne. Manchmal ist dieses Verlangen auch stärker, wenn du weit von zu Hause weg bist. Es gibt Momente, in denen würde ich es lieben nach Armenien zu gehen und mich von der Natur, Architektur oder Künstlern inspirieren zu lassen. Diese Energie zurückzubekommen.
Trotz all dem brauche ich auch Stille zum Komponieren oder Üben, sodass ich all diese Emotionen bündeln kann.
Wenn du ein Stück schreibst, passiert zuerst die Komposition und ganz am Ende wird ein Titel hinzugefügt. Also die Musik zeichnet ein Bild, das du dann betitelst und beschreibt nicht eine frühere Vorstellung. Denkst du daran wie dein Umfeld klingt, wenn du an neuen Orten oder der Natur bist?
Ja, überall wo ich mit Jahrtausend alter Kultur in Berührung komme, überlege ich mir wie die Musik hier geklungen hat und wie sie sich verändert hat. Es ist lustig, dass du fragst, aber ich beschäftige mich gerade viel mit Mittelalter, Barock und der Musik aus dem 12. Jahrhundert. Also Musik, die fast 1000 Jahre alt ist. Und da gibt es immer ein Verlangen, sich mit etwas wieder zu verbinden. Ich weiß nicht warum, aber diese Musik inspiriert mich.
Was ist das für eine Musik? Wie klang die Musik in dieser Region vor 500 Jahren? Wie bin ich damit verbunden? Ändert mich das? Das sind Fragen, die ich mir immer stelle. Es gibt Musik, die ich entdecke, die bei mir bleibt. Wenn dich etwas berührt, das vor 700 Jahren geschrieben wurde, muss man sich fragen, wie das funktioniert. Diese alten Melodien zu erforschen, berührt mich.
Der Vater hörte Rock, der Onkel Jazz. Kannst du dich an den Moment erinnern, als du zur armenischen Volksmusik gefunden hast?
Das war tatsächlich auch wegen meinem Onkel. Er nahm mich einmal zu einer Dinnerparty bei einem seiner Freunde mit. Dort wurde gerade ein paar ECM Label Jazz gehört. Also Künstler wie Jan Garbarek, Keith Jarrett und Ralph Towner. So etwas hatte ich noch nie gehört. Zu der Zeit gab es für mich nur Bebop.
Als wir dann das Album “DIS” gehört haben, ein Duett Album von Jan Garbarek und Ralph Towner, hat es mich erwischt. Was ist das? Es ist schön und improvisiert aber nicht so wie ich es kannte. Natürlich haben auch diese Künstler sich mit Bebop beschäftigt, aber ich hörte kein derartiges musikalisches Vokabular. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass ich in ihrer Improvisation Volksmusikelemente hören konnte. Jan war von norwegischer, bulgarischer und wahrscheinlich auch armenischer Volksmusik inspiriert.
Seitdem betrachte ich improvisierte Musik anders. Diese Nacht hat mir die Tür zur Volksmusik geöffnet. Ich komm aus einer Region mit einer reichen Musikkultur. Damals war ich 13 und seitdem war mein musikalisches Leben verändert.
Ich fand es lustig, als du erzählt hast, dass du keine andere Musik mochtest, als du Bebop gehört hast.
-Tigran lacht- “Habe ich wirklich nicht.”
Das ist eine Erfahrung, die mehrere Menschen beschreiben, vor allem wenn sie Musik in westlichen Hemisphären studieren. Denkst du, dass es ein institutionelles Problem in der Art wie wir Jazz und Popular Musik unterrichten gibt?
Jazz Studies sind etwas sehr Sonderbares. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Jazz Musikern.
Es gibt die, die durch Bebop gegangen sind und dadurch ihren Weg gefunden haben und jene, die sofort mit etwas Neuem begonnen haben. Ich respektiere beide dieser Wege.
Meine Erfahrung war Bebop und das hat mich gelehrt, wie ich in Strukturen denke, sie baue und in ihnen improvisiere.
Ich bin dankbar, dass ich Bebop studiert habe und auch für all die großartigen Lehrer für Komposition und klassische Musik, die ich hatte. Das ist ein großer Teil meiner Arbeit. Jede Schule in jedem Land hat andere Systeme und ich denke nicht, dass es eines gibt, das für jeden passt.
Wir sollten weniger daran denken, welche Dinge uns nicht gezeigt wurden, sondern warum wir uns für manches nicht interessiert haben. Du wirst zu jedem Thema Leute finden, die dir die gesuchte Information geben können.
Ich habe zum Beispiel in Armenien nichts über frühe westliche Musik gelernt über die Musik vor Bach, Renaissance, westliche Polyphony und Notre-Dame Schule. Komponisten wie Pérotin, Léonin oder Machaut.
Das ist eine riesige Inspiration für mich und ich hatte davon nichts gehört, bis ich in Amerika war und bereits acht Jahre klassische Musik studiert hatte.
Es geht also darum, dass Musiker verstehen, was sie wollen und das verfolgen.
Welchen Rat würdest du also jungen Musikern geben, die ihren musikalischen Horizont erweitern wollen?
Ein Rat, den ich meinem damaligen, studierenden Selbst geben würde, ist, sich außerhalb dessen umzusehen, was gerade im Trend ist. Es ist leicht, sich und seine Stimme im Strom zu verlieren, aber vielleicht willst du etwas ganz Neues sagen. Gib darauf acht und versuch Neues zu finden, außer dem, was gerade gemacht wird.
Du sprichst auch darüber, dass Musik ihren Wert verloren hat, weil sie überall ist. Was kann gegen diesen Wertverlust unternommen werden?
Ich weiß es nicht. Musik ist aktuell überall und das ist nicht zu ändern. Ich würde gerne Musik in Restaurants und Kaffees verbieten – warum sollte ich beim Essen Musik hören?
Besonders die Idee von Hintergrundmusik! Überall läuft Musik im Hintergrund und manchmal wird auch wirklich gute Musik zur Hintergrundmusik und das ist respektlos.
Es prasselt so viel Musik und Information auf dich herunter, dass du manchmal deine Ohren zuhalten musst, um dich zu schützen.
Musik ist überall und manchmal braucht man Stille, um Musik wertzuschätzen.
Hörst du beim Autofahren Musik?
Ich fahre nicht. Also wenn ich im Auto Musik höre, bin ich nicht am Steuer. Ich kann zwar Autofahren, aber hätte Angst davor ein Stück Kunst zu hören und dabei zu lenken.
Ich bin aber meistens am Beifahrersitz, also kann ich darüber nachdenken und zuhören.
Man könnte sagen du bist als junges Talent oder Wunderkind aufgewachsen. Die Leute haben schon sehr früh erkannt, dass du ein ganz formidabler Musiker bist. Nun hast du schon eine lange Karriere hinter dir. Wie bist du damit zurechtgekommen nicht mehr das Wunderkind zu sein?
Ich hatte eigentlich nie das Gefühl ein Wunderkind zu sein, da ich in der glücklichen Lage war, einen Guide zu haben. Mein Onkel – derselbe der mir Jazz und Funk gezeigt hat – hat wirklich versucht darauf achtzugeben, dass ich nicht ausgenutzt oder als Wunderkind präsentiert wurde. Dafür bin ich wirklich dankbar, vor allem, wenn ich jetzt junge Talente sehe, die 14 sind, überall spielen und große Medienaufmerksamkeit haben.
Ich begann meine Karriere zwar früh im Alter von elf Jahren, aber niemand kannte mich bis meine Karriere bereits 10 Jahre fortgeschritten war. Ich war die meiste Zeit zuhause und habe geübt und komponiert.
Dann bin ich nach Amerika gezogen und hatte Musik, die ich mit Leuten spielen wollte. Die musste ich finden und mit der Hilfe meiner Familie bezahlen. Also wie eine “normale” Karriere und nicht wie ein Wunderkind, das im Fernsehen zu sehen war und überall präsentiert wurde.
Dafür bin ich dankbar, denn ich könnte jetzt auch nicht hier sein, musikalisch gesprochen.
Improvisation scheint ein großer Teil deiner Arbeit zu sein, deine Alben klingen dann aber sehr strukturiert. Würdest du mich durch deinen Gedankenprozess beim Komponieren führen. Wo hört die Improvisation auf und der klassische Komponist übernimmt?
Ich bin ein Komponist, der auch Klavier spielt und komponiere auch die meiste Zeit am Instrument. Ich denke, dass jede Art von geschriebener Musik das Resultat von Improvisation ist. Selbst wenn der Komponist nur an seinem Tisch sitzt und schreibt, improvisiert er in seinem Kopf.
Die Musik passiert und wird in diesem Moment ins Leben gerufen. Und alle Komponisten suchen die neue Melodie, Harmonie oder Klangerlebnis.
Es ist das, was nach dem improvisieren kommt, was mir am schwersten fällt. Sich zu überlegen was niedergeschrieben wird, welche Welt man erschafft und wie man sie gestaltet. Diese Entscheidungen zu treffen ist für mich viel schwerer. So ist nicht jede meiner Kompositionen, manche gehen schnell und leicht von der Hand, aber meistens ist es so. Ich mühe mich immer etwas ab, aber auf eine gute Art.
In manchen deiner Stücke, wie zum Beispiel Vardavar, werden relativ gängige Strukturen wie zum Beispiel zwei 4/4tel Takte in diese wirklich ausgefuchsten sechzehntel Gruppen aufgeteilt. Wie nimmst du solche rhythmisch anspruchsvollen Passagen beim Komponieren wahr?
Das kommt auf die Stelle an. Manchmal fühle ich die Gruppierungen und manchmal den geraden Takt. Wenn ich zum Beispiel über die zwei Takte bei Vardavar improvisiere, spür ich lieber die Gruppierungen, das fällt mir leichter. Manchmal brauche ich aber den 4/4tel Takt.
Was das Komponieren anbelangt passiert das alles im Nachhinein. Ich schreibe ein Stück und dann analysiere ich, was ich eigentlich gerade geschaffen habe.
2020 hast du dein letztes Album “The Call Within” veröffentlicht. Welche neuen musikalischen Abenteuer sind denn gerade in Arbeit?
Etwas später diesen Monat (Jänner 2022) kommt ein Remix von einem der Songs von “The Call Within”. Ich habe auch ein gänzlich anderes Projekt in Arbeit, das im April erscheint, aber darüber will ich noch nichts verraten.
Der Garten von Manuela und Herbert Gutlederer bietet manchmal einen ungewöhnlichen Anblick, und zwar immer dann, wenn ihre beiden Hausesel hier grasen. Wie diese ungewöhnliche Familie zusammen gefunden hat, und was es heißt Esel als Haustiere zu haben, erzählt Manuela in diesem Video.